Azraelle 2.0

Azraelle 2.0
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Michael Kocher

Kapitel VIII Das Date Ich bin viel zu nervös, um die Aussicht im »Aqua Shard« genießen zu können, während ich warte. Nicht etwa wegen dem, was gestern geschehen ist. Das verdränge ich gerade mehr oder weniger erfolgreich. Es ist so unwirklich wie ein böser Traum. Nein, aufgeregt bin ich der gegenwärtigen Situation we- gen. Normalerweise würde ich in einem solchen Moment eine rauchen, aber die Zigaretten habe ich zu Hause gelas- sen. Nichts darf Emily abschrecken, schon gar kein Ziga- rettenatem. Ich muss perfekt für sie sein. Obwohl wir uns schon kennen, habe ich nur eine Chance auf einen guten ersten Eindruck. Bis jetzt waren wir bloß Kolleginnen auf der Uni und im Revier. Nun aber will ich mehr, und ich muss alles vermeiden, was mich in ein schlechtes Licht rü- cken könnte. Also: nicht rauchen, nicht mal darüber nach- denken, dass ich Lust darauf hätte. Keine Medikamente, obwohl es mir nach gestern Abend nicht gerade gut geht. Kein Alkohol oder besser: nicht zu viel Alkohol, und das bisschen nur vom Besten. Falls ich es bezahlen kann, heißt das. Ich habe das schon für unser Date einkalkulierte Ho- 81 81 norar gestern natürlich nicht bekommen, was mich nun ziemlich in Bedrängnis bringt. Trotzdem will ich mir da- von den Abend nicht vermiesen lassen… Also weiter im Text: Nicht tollpatschig sein, keine Getränke verschütten, und ganz wichtig: Auf gar keinen Fall darf ich irgendetwas Falsches sagen. Ich bin nicht vor knapp vierundzwanzig Stunden Zeugin eines Mordes geworden und habe gemein-



sam mit meinem Vorgesetzten alle Spuren beseitigt. Ich bin auch keine Nutte, die sich noch vor zwei Tagen von einem durchgeknallten Militaristen hat flachlegen lassen. Nein, ich bin eine selbstbewusste Kriminalbeamtin, die sowohl Job als auch Privatleben vollkommen im Griff hat! Emily! Ich schnelle von meinem Platz hoch, mein Oberschenkel knallt gegen die Tischkante. Die Gläser klirren, fallen aber zum Glück nicht um. Aua! Ich beiße die Zähne zusammen und lächle. Morgen werde ich einen schönen blauen Fle- cken am Oberschenkel haben. Tollpatsch! Emily sieht umwerfend aus. Sie trägt ein dunkelrotes, kurzes Kleid, unaufdringlich, aber dennoch ein Blickfang. Man sieht auf den ersten Blick, dass sie an Orten wie hier ganz zu Hause ist – im Gegensatz zu mir. Alles an mei- nem Outfit ist mindestens eine Preisklasse zu billig. Meine Knie werden immer weicher, je näher Emily unserem Tisch kommt. Ihr Lächeln ist so rein und süß und ihre ganze Er- scheinung einfach zum Niederknien. Das trifft mich wie ein Blitzschlag. Das letzte Mal habe ich mich in der Gegenwart von Azraelle so gefühlt. Ich falle völlig aus dem Konzept, doch als Emily mich umarmt und 82 ohne Zögern zart auf die Lippen küsst, ist augenblicklich alles wieder gut. Trotzdem bin ich noch ganz zittrig, jetzt, wo ich Emily gegenübersitze. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Alles ist so fremd für mich. Wie geht es nun weiter? Im Pub hätte ich ein Ale bestellt und innert Sekunden hätte sich aus dem Verhalten anderer Gäste, einem Fussballspiel am Fernseher


oder sonst wie ein Anfang ergeben. Aber hier, wo alles ge- sittet und ruhig ist, finde ich beim besten Willen keinen Einstieg. Der Kellner rettet mich fürs Erste mit der Karte. Doch ich bin augenblicklich überfordert. Champagner zum Start? Ja, sicher … Aber welcher? Ganz gewiss nicht der bil- ligste, aber zu teuer darf er auch nicht sein … Der Kellner sieht mir meine Verzweiflung an, empfiehlt irgendwas, das ich mir nicht merken kann, doch ich nehme die Hilfe nur zu gerne an. Ich merke erst, dass ich die ganze Zeit über auf mein noch leeres Glas gestarrt habe, als Emily ganz sachte meine Hand ergreift. »Es ist schön, mit dir hier zu sein, Florence.« Ihr Lächeln bringt mich beinahe zum Weinen. Sie mag naiv sein, aber gleichzeitig wirkt sie auch so rein, unschuldig und ehrlich. Sie ist einfach perfekt. Emily hat das Eis gebrochen und über einem Glas Cham- pagner nimmt die Konversation dann doch Fahrt auf. Wir lachen darüber, dass sich keine von uns beiden während des Studiums über Smalltalk hinausgetraut hat, weil wir beide Angst davor hatten, die andere könnte vielleicht doch nicht lesbisch sein, obwohl die Anzeichen deutlich waren. Emily hört mir geduldig zu, als ich aus meiner Kindheit im Heim erzähle. Sie wirkt ehrlich betroffen und erzählt mir dann, dass sie eine jüngere Schwester hat, die im Kindes- alter verschwand. »Das ist wohl einer der Gründe, weshalb 83 ich immer zur Polizei wollte«, sagt sie und blickt nachdenk- lich in ihr Glas.



»Ich hoffe noch immer, sie wiederzufinden, so unwahrscheinlich das nach all den Jahren auch scheint.« Ich hätte gerne noch mehr über Emilys geheimnisvolle Schwester erfahren, doch der Kellner unterbricht uns, um die Bestellung aufzunehmen. Wir nehmen beide das Black- Angus-Filet, obwohl ich beim Anblick der Zahl dahinter doch zweimal schlucken muss. Ich hoffe bloß, dass Emily nicht auf die Idee kommt, sich an der Rechnung zu be- teiligen. Das wäre mir peinlich. Ich habe sie zum besten Date aller Zeiten eingeladen und darum geht heute alles auf mich, koste es, was es wolle. Das Essen ist vortrefflich, der Wein ebenfalls. Nur von der Rechnung wird mir letztlich wie erwartet beinahe übel. Das Trinkgeld fällt daher ein wenig mickrig aus, doch der Kellner versteht meinen zerknirschten Blick und nickt gnä- dig. Wir verlassen das »Aqua Shard« kurz nach acht Uhr abends und steigen in ein Taxi, welches uns die paar Mei- len rüber zum Royal Opera House bringt. Natürlich bin ich mir durchaus bewusst, dass die Oper bereits um halb acht angefangen hat. Schließlich dauert sie auch drei Stunden. Aber wenn man erst im dritten Akt einsteigt, sind auch die teuersten Logenplätze auf einmal durchaus erschwinglich. Es gab eine Zeit, da habe ich das öfter gemacht. Ich hatte damals – in meiner letzten heterosexuellen Phase – einen Freund, der nebenbei als Platzanweiser dort gearbeitet hat. Und anstatt einfach auf ihn zu warten, bis seine Schicht zu Ende war, habe ich mir so ziemlich alle zweiten Hälften



angesehen, welche die Oper zu bieten hatte. Als wir aus dem Taxi steigen und auf das mondäne Ge- 84 bäude zugehen, bin ich ein wenig irritiert von Emilys Ge- sichtsausdruck. Sie bleibt plötzlich stehen und starrt auf das übergroße Plakat neben dem Eingang. FAUST Oper in fünf Akten von Charles Gounod Das Bild zeigt eine am Boden kniende Frau mit einem ro- ten Band um den Hals zwischen zwei aufrechtstehenden Männern, denen der Brustton der Leidenschaft förmlich anzusehen ist. Emily weicht leicht zurück vor diesem dramatischen An- blick. Ich trete neben sie, nehme sanft ihre Hand und frage vorsichtig: »Alles in Ordnung, Emily?« Das löst sie aus ihrer Erstarrung. Sie lächelt mich an, als wäre nichts gewesen. »Ja, Flo, mit dir ist einfach alles wun- derbar.« »Flo?« »Kein guter Kosename?« Emily wirkt verunsichert, deshalb erwidere ich schnell: »Doch, doch, Emy.« Dann gebe ich ihr einen schüchter- nen Kuss auf die Lippen. Wir strahlen uns einen kurzen Moment gegenseitig an, dann führe ich sie hinein in den Tempel der Kunst. Nach einer kurzen Schrecksekunde an der Kasse, in der ich befürchte, die Vorstellung wäre wirklich komplett aus- verkauft, halte ich tatsächlich die Tickets für zwei der bes- ten Logenplätze zum billigsten Tarif in meinen Händen. Mit einem triumphierenden Grinsen gehe ich zurück zu 85 Emily, die an der Garderobe auf mich wartet und mir im Tausch gegen ihr Ticket meine Garderobenkarte reicht. Es ist tatsächlich mein Ex, der uns zu unseren Plätzen beglei- tet.



Obwohl das unüblich ist, führt er uns schließlich bereits vor Ende des zweiten Aktes zu unseren Plätzen, was sowohl ihm als auch uns den einen oder anderen säuerlichen Blick der anwesenden feinen Gesellschaft einträgt. Emily wirft allen einen entschuldigenden Blick zu und die Sache ist vergessen. Wer könnte diesem Engel auch lange böse sein? Emily folgt dem Geschehen auf Bühne und Orchester- graben fast so gespannt und fasziniert, wie ich ihre so un- glaublich perfekte Gestalt bewundere. Ich bin gerade die glücklichste Frau der Welt. Dann, im fünften Akt, ändert sich Emilys Verhalten. Ihre Anspannung steigert sich mit jeder Note im Gleichtakt mit der Dramatik, die sich auf der Bühne abspielt: Margarete im Kerker, Faust und Mephisto sind bei ihr. Als Mephisto im »Trio Final« zum »Alerte, Alerte« an- setzt, sehe ich, wie Emily zittert. Vorsichtig berühre ich ihre Hand und sie schmiegt sich sofort an mich. Ich bin gleichzeitig irritiert, besorgt und gerührt. Und dann, beim für mich größten Moment dieser Oper, weint Emily auf einmal. Zugegeben, auch mir kommen in dieser Szene bei- nahe die Tränen, einfach weil die Musik so unfassbar schön ist, so dramatisch, so schicksalshaft, so endgültig. Es ist Margaretes letzter Auftritt, ihre letzte Arie in diesem Werk. Anges purs, anges radieux, Portez mon âme au sein des cieux! Dieu juste, à toi je m’abandonne! 86 Dieu bon! Je suis à toi, pardonne! Anges purs, anges radieux, Portez mon âme au sein des cieux!


* Reine Engel, strahlende Engel, Tragt meine Seele in den Schoß des Himmels! Gerechter Gott, dir gebe ich mich hin! Guter Gott! Ich bin dein, vergib mir! Reine Engel, strahlende Engel, Tragt meine Seele in den Schoß des Himmels! Nach dem langanhaltenden Applaus am Ende der Oper hat Emily sich wieder gefangen. Sie wirkt so glücklich wie zuvor und darum ist jetzt nicht der richtige Moment für Fragen. Plötzlich werde ich nervös. An alles habe ich ge- dacht, nur nicht daran, was nach der Oper geschehen soll. Soll ich Emily noch auf einen Drink einladen? Oder möchte sie vielleicht mit mir in eine Diskothek oder einen Nacht- club? Das fühlt sich alles komisch an nach diesem intensi- ven Abend und passt so gar nicht zu mir. Soll ich sie fragen, ob sie noch mit zu mir kommt in meine kleine schäbige Wohnung? Was soll ich dann dort tun? Wie weit darf ich gehen? Will sie heute schon mehr, oder bin ich zu forsch? Emily sieht mir meine Unsicherheit wohl an, denn sie übernimmt die Initiative. Sie greift meine Hand und führt mich stolz wie eine Eroberin via Garderobe hinaus aus der Oper. Sie fragt nicht, sondern ruft einfach ein Taxi, gibt dem Fahrer ihre Adresse und setzt sich mit mir auf den Rücksitz. Ich habe keine Zeit mehr, mir über den weiteren 87 Verlauf des Abends Gedanken zu machen. Kaum ist das Taxi in Bewegung, sind wir es auch. Emily wendet sich mir


zu, schlingt ihren Arm um meine Schultern, zieht mich zu sich und küsst mich. Mein Gott, sie riecht so unfass- bar gut! Ich erwidere ihre Umarmung und schließe meine Augen. Emilys linke Hand streichelt über meinen Scheitel, meine Wange und gleitet dann seitlich an meinem Ober- körper hinunter an meine Lenden. Ihre Fingernägel bohren sich in meine Pobacke und ich stöhne auf. Der Taxifahrer räuspert sich, worauf wir uns ein wenig beschämt fortan mit allzu lüsternen Zärtlichkeiten zurückhalten, bis wir an Emilys Adresse ankommen. Ich kann nicht anders, als Emily neckisch zwischen die Schenkel zu greifen, während sie den Fahrer bezahlt. Sie quiekt und kichert. Dann stei- gen wir aus dem Wagen und rennen, so gut das in unseren Highheels möglich ist, zum Eingang. Ich habe keine Augen für das schicke Gebäude, in dem Emily residiert. Ich habe meine Sinne ausschließlich für sie reserviert. Im Aufzug sind wir allein. »Ich wusste ja gar nicht, dass du so ein armes Mädchen bist«, raune ich mit gespieltem Bedauern. »Du kannst dir ja nicht mal ein Höschen leisten!« Emily lacht, zieht mir den Saum meines Kleides bis zu den Brüsten hoch, greift mir in meinen Slip und – ratsch – reißt ihn mir einfach in Fetzen. »Genau, darum klau’ ich dir jetzt auch deins!« Sie drückt mich an die Wand, beißt mir zärtlich in den Hals und lässt ihre Finger über mei- nen Venushügel und meine Scheide streichen. Ich keuche auf. Endlich ertönt das erlösende »Pling« und der Aufzug hält an.


Ich kann es nicht erwarten, Emily an die Wäsche zu gehen. Die Tür ist kaum ins Schloss gefallen, da liegen 88 auch schon all unsere Klamotten in der Wohnung verteilt und ich splitternackt auf Emilys Esstisch. Meine Hände krallen sich hinter meinem Kopf an der Tischplatte fest. Emilys Fingernägel kratzen sanft über meine Brüste, meine Lenden und meine Innenschenkel. Dann ist es endlich so weit: Sie küsst meinen Schoß! Wow! Ihre Zunge ist flink. Mein Schrei muss auch in den Wohnungen über, neben und unter uns zu hören sein, aber das ist mir vollkommen egal. Das, was ich hier erlebe, ist das Allerbeste, was es auf der Welt geben kann, und da lasse ich mich von nichts auf- halten. Ich setze mich auf, hüpfe vom Tisch und schnappe mir Emilys Hand. »Wo ist hier das Schlafzimmer?« Sie macht mit ihrem Kopf eine kurze Bewegung nach rechts und dann – taps, taps, taps – huschen unsere nackten Füße über das Parkett. Ich bin überwältigt: Sie hat ein riesi- ges Himmelbett und auf dieses dränge ich sie nun zu. »Jetzt bist du dran. Sowas von dran bist du! Du kannst dir ja nicht mal im Entferntesten vorstellen, wie sehr du nun dran bist!« Wir lachen beide, als wir uns auf die Matratze fallen lassen. Auf dem Nachttisch liegen Emilys Handschellen. Geil. Ich greife nach ihnen. Das sind keine Spielzeuge, es sind diesel- ben, die sie im Dienst bei sich hat. Ich greife mir ihre Hände


mit geübtem Griff, es macht zweimal »klick« und Emily ist ans Bettgestell gefesselt. Ich setze mich rittlings auf sie, beuge mich zu ihr herunter, kralle meine Finger in ihr Haar und knutsche mit ihr, bis sie nach Luft ringt. Meine Lippen gleiten über ihr Kinn zum Grübchen unterhalb des Halses, während ich lüstern ihre Brüste knete, meine Hände unter ihren Rücken schiebe und meine Zunge mit ihren Brust- warzen spielen lasse. Emily stöhnt. Das spornt mich weiter an. Ich rutsche von ihr runter leicht zur Seite und greife 89 ihr zwischen die Schenkel. Ihre Scheide ist nass, nicht bloß feucht. Mein Mittelfinger reibt zwischen ihren Schamlip- pen auf und ab. »Ja, ja, ja!«, haucht sie. »Genau, ja, ja, ja«, erwidere ich lachend. Drücke fester und lasse zwei Finger in ihr verschwinden. Raus und wie- der rein und wieder und immer wieder. Das Bettlaken ziert ein hübscher nasser Fleck, nachdem ich endlich zufrieden bin und Emily »genug … aufhören … bitte …« stöhnt. »Ich … kann … nicht … mehr! Mein Gott, du machst mich so was von wuschig, so etwas Geiles hab’ ich ja noch nie erlebt!« Wir sind beide völlig fertig. Ich befreie Emily, ziehe die Decke hoch und nehme meine Geliebte in den Arm. Es dauert nicht lange, bis wir beide einschlafen. Mitten in der Nacht wache ich auf. Ich liege mit meinem Rücken eng an Emily gekuschelt und spüre plötzlich, wie sie sich aufrichtet und über mich beugt. Sie streichelt ganz sanft meinen Kopf.

»Weißt du, Flo, ich darf dir das alles eigentlich unter gar keinen Umständen erzählen«, flüstert sie plötzlich. Ich er- starre und wage es kaum, zu atmen. »Aber ich kann nicht anders. Darum tue ich es, während du schläfst. So kann ich es loswerden und verrate doch nichts. Du musst wis- sen, ich bin ein Engel. Mein Nachname Michaelis ist kein Zufall. Meine Familie stammt tatsächlich vom Erzengel Michael ab. Wir haben in einem wunderbaren Haus ge- wohnt, in einem Vorort von London. Ich, meine Eltern und meine kleine Schwester. Es war eine glückliche Zeit. Aber wir wussten, dass sie nicht lange anhalten würde. Es stand schon länger fest: Der Antichrist würde bald auf Erden er- 90 scheinen und zeitgleich – wenn alles gut geht – auch der Messias. Wir haben einen Auftrag zu erfüllen. Wir sollen dem Guten zum Sieg verhelfen. Dafür mussten wir ein Op- fer bringen. In der Oper habe ich wegen meiner Schwester geweint. Sie ist nicht tot. Aber dennoch habe ich sie ver- loren. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie ungefähr vier Jahre alt war. Ich weiß bloß, dass sie lebt und ich weiß, dass sie es schwer hat. Ich vermisse sie so schrecklich … Aber jetzt werde ich dich in Ruhe lassen, Flo. Schlaf schön weiter, mein Schatz.« Emily küsst mich auf die Schläfe und kuschelt sich an mich. Ich spüre ihre Brüste an meinem Rücken. Am liebs- ten würde ich mich gleich zu ihr umdrehen, um sie noch-



mals zu vernaschen, aber damit würde ich ihr verraten, dass ich alles gehört habe. Ein Engel? Warum nur gerate ich bloß immer an die Mäd- chen, die fast ebenso sehr einen an der Klatsche haben wie ich?, denke ich und schlafe glücklich ein. 91 Kapitel IX Panis Angelicus Mein Herz rast, während ich wie besessen ziellos durch die Straßen renne. Ich habe meinen Herrn getötet. Wie konnte ich das nur tun? Es war der Befehl meiner Herrin. Ich konnte mich ihr nicht widersetzen. Sie ist doch so gut zu mir. Wie gelähmt blicke ich an mir herunter und mir wird übel. Mein rechter Arm ist voller Blut. Warum hat der Schuss nicht ausgereicht? Warum musste ich auch noch den Dolch benutzen? Jemanden zu erschießen, ist schlimm genug. Zu- zustechen ist noch viel schrecklicher. Das ist nicht mein Stil und auf diese Weise ausgerechnet meinen Herrn zu töten, ist mehr, als ich verkraft en kann. Ich übergebe mich an einer Bushaltestelle in einen Müll- eimer. Die wartenden Leute weichen erschrocken vor mir zurück und ich irre weiter. Niemand darf mich erkennen! Sie dürfen sich niemals mein Gesicht merken können. Schließlich erreiche ich einen Friedhof mit hohen alten Bäumen. Hier kauere ich mich hinter einen großen Grab- stein, um meine Sinne wieder zu ordnen. Doch nur wenige Schritte neben mir kläfft ein Hund und sein Besitzer wird 93 93 auf mich aufmerksam. »Miss? Was tun Sie da? Das hier ist ein Friedhof und keine öffentliche Toilette!« Ich schieße hoch. Verdammt!



Warum gehen die Leute hier bloß mitten in der Nacht mit ihren Kötern spazieren? Es hat keinen Sinn, die Situation richtigzustellen, darum suche ich rasch das Weite. Ohne es zu wollen, stehe ich auf einmal wieder vor dieser Kirche. Es ist dieselbe, die mich damals so magisch angezogen hat, nachdem ich Raùl beseitigt hatte. Wieder stehe ich vor dem Kirchenfenster, aus dem dieses Mal helles goldenes Licht fällt. Orgelklänge dringen aus dem Gebäude und wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, folge ich der Musik. Als ich eintrete, er- klingt gerade das Vorspiel zu »Panis Angelicus« von César Franck. Für den eher bescheidenen Vorort, in dem sie steht, ist die Kirche ziemlich beeindruckend. Ich spüre ein Kribbeln auf meiner Haut und bin mir sicher, dies ist nicht einfach ir- gendeine Kirche. Sie muss auf eine mir noch nicht erklärli- che Weise bedeutsam sein. Die Kirchenbänke sind alle leer, aber beim Altar ist ein Chor mit seiner Probe beschäftigt. Ich schleiche mich noch ein paar Schritte im Mittelgang nach vorne, bleibe dann stehen und verharre still. Erstaun- licherweise bemerkt mich niemand. Der Dirigent hebt die Arme und da glaube ich, direkt vor einer Engelsschar zu stehen. Ich falle auf die Knie und weine, als ich folgende Worte höre: »Panis angelicus fit panis hominum; Dat panis coelicus figuris terminum: 94 O res mirabilis! manducat Dominum pauper, servus et humilis. Te trina Deitas unaque poscimus: Sic nos tu visita, sicut te colimus; Per tuas semitas duc nos quo tendimus, Ad lucem quam inhabitas. Amen.«



* Der Engel reines Brot wird Brot für Menschen; leeren Zeichen bringt Tod das Brot aus dem Himmel. O Wunder der Wunder! Es nähren vom Herrn sich Arme, Sklaven und Niedere. Du Gottheit dreifaltig und eins, dich bitten wir: Weile so unter uns, wie wir dich verehren; über deine Wege führ uns ans Sehnsuchtsziel, dorthin zum Lichte, wo du wohnst. Amen. 95 Nachdem der Schlussakkord verklungen ist, vernehme ich plötzlich eine Stimme vor mir. »Du brauchst hier nicht zu knien, wir sind nicht katholisch.« Ich öffne meine Augen und schrecke zurück. Der rot- haarige Mann vor mir muss der hiesige Pfarrer sein, sein Ornat verrät ihn. Er hat sich zu mir heruntergebeugt. Ob- wohl ich fliehen sollte, bleibe ich, wo ich bin. Der Mann vor mir macht mir keine Angst. Es fühlt sich an, als hätte ich gefunden, wonach ich gar nicht gesucht habe. »Ich bin Reverend Jordan Hale, mein Kind«, sagt er, greift nach meinem Dolch und lässt ihn in seiner Robe ver- schwinden. »Ich denke, es ist besser, wenn ich dich jetzt an einen Ort bringe, an dem wir ungestört reden können.« Er richtet sich auf und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie, ohne zu zögern, und er führt mich durch eine Seitentüre hinaus aus der Kirche. Das Pfarrhaus liegt gleich nebenan und beim Eintreten fühlt es sich an, als würde ich nach Hause kommen. Sein Heim wirkt einladend, warm und freundlich auf mich. Reverend Hale führt mich in die


Küche, in der ein alter Eisenofen steht, der eine wohlige Wärme abstrahlt. Ohne zu fragen, setze ich mich in einen Schaukelstuhl neben dem Ofen. Der Reverend zieht den Dolch unter seiner Robe hervor und legt ihn ins Spülbe- cken. Danach greift er nach einem Tuch, hält es unter den Wasserhahn, wringt es aus und reicht es mir. Ich wische mir das Blut von den Armen und schon nach wenigen Mi- nuten ist das vormals weiße Tuch vollkommen rot. »Hm, damit kommen wir wohl nicht weit«, murmelt Re- verend Hale. Wieder streckt er seine Hand aus und wieder lasse ich mich von ihm führen. Wir gehen die Treppe hin- auf ins Bad. Hale öffnet einen Schrank und holt ein Frottee- 96 tuch heraus. Als er sich wieder zu mir dreht, zuckt er kurz zusammen. Ich habe mich ohne jede Scham ausgezogen und es stört mich nicht im Geringsten, wie er mich nun ansieht. Immerhin ist er alles andere als unattraktiv. Gut, er mag schon ein paar Jahre älter sein als ich, aber aus einem unerfindlichen Grund spüre ich, dass er der Richtige für mich ist. Ich bin vollkommen von diesem Mann eingenom- men, gehe auf ihn zu und ziehe ihm, ohne zu fragen, seine Robe aus. Darunter trägt er einen schlichten, anthrazit- farbenen Anzug. Allerdings nicht mehr lange. Nur wenig später stehen wir zusammen unter der Dusche. Hales Finger krallen sich in mein Haar. Wasserdampf be- schlägt die Glastür der Dusche. Das Blut meines Herrn


ist im Abfluss verschwunden und ich fühle mich wieder rein, obwohl ich gerade meine Beine um diesen attraktiven Mann schlinge und laut aufstöhne, als er in mich eindringt. Ich darf das nicht tun! Ich darf nicht! Ich muss sterben, wenn ich meine Jungfräulichkeit an jemanden verliere, der nicht für mich bestimmt ist! Aber ich will ihn doch so sehr ... Er stößt zu, immer und immer wieder. Ich habe das noch nie zuvor erlebt, aber auch in meinen kühnsten Vorstellun- gen hätte ich nie mit einer solchen Ausdauer gerechnet. Meine Finger sind schrumpelig, als wir die Dusche ver- lassen. Hale lässt mir kaum Zeit, mich abzutrocknen, ehe er mich in sein Schlafzimmer drängt. Dort macht er mit der gleichen Intensität weiter. Er dreht mich auf den Bauch, kniet sich zwischen meine Schenkel, greift um meine Taille und zieht mich hoch. Schon ist er wieder in mir und ich weiß kaum noch, wie mir geschieht. Als er sich endlich – nun doch schwerer atmend – neben 97 mich legt, bin ich so erschöpft, dass ich beinahe sofort ein- schlafe. Der kommende Tag beginnt so, wie der letzte aufgehört hat: mit ganz viel Sex. Hale ist unerbittlich, unersättlich und unmöglich aufzuhalten. Ich genieße die neue Erfahrung völlig hemmungslos, doch in einem seltenen Moment der Ruhe fällt mir mit Schrecken ein, was mein Herr mir bei meiner Ordenstaufe erklärt hat: Die Stärke der dunklen Mächte liegt in ihren Lenden! Oh mein Gott! Sollte mich etwa letzte Nacht ein Dämon entjungfert haben? Ich be-



komme Angst und weiche vor seinem nächsten Annähe- rungsversuch zurück. »Was hast du denn auf einmal?« Erst weiß ich nicht, was ich antworten soll, doch dann fällt mir ein Grund ein, der halbwegs plausibel erscheinen könnte. »Ich ... fühle mich unwohl, mit einem Mann zu schlafen, der noch nicht einmal meinen Namen weiß.« Hale grinst. »Ach, jetzt plötzlich? Bis jetzt bist du mir nicht so prüde vorgekommen.« »Ich bin es auch nicht. Aber schüchtern ... eigentlich ...«, erwidere ich. Das scheue Mädchen ist eine meiner Para- derollen. Ich setze mich auf, rutsche ans Kopfende des Bettes und ziehe das Laken hoch, um meine Brüste zu bedecken. Hale kann sich ein Lachen nicht verkneifen, hat er doch schon alles von mir gesehen. »Na dann ... Ich bin Jordan. Aber das weißt du ja eigentlich, wenn ich dir die Erinne- rung daran nicht bereits aus dem Kopf gefickt habe.« Ich nestle verschämt am Bettlaken rum. »Ich heiße Az- raelle«, flüstere ich. 98 »Wie der Todesengel des Islam, nur weiblich«, erwidert Jordan trocken. Ich zucke zusammen. Seine Worte erinnern mich an den Mord an meinem Herrn. Ja, auch ich bin ein Todesengel. »Oh, tut mir leid«, entschuldigt er sich. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen, Azraelle.« Jordan sagt das mit einer augenzwin- kernden Förmlichkeit, die mich erwarten lässt, dass er mir als Nächstes die Hand schüttelt. Sein Lächeln ist freundlich und mein Misstrauen schwin- det. »Du bist ein sehr ungewöhnlicher Geistlicher, Jordan«,

gebe ich mich entspannter und lächle zurück. »Warst du denn schon mit vielen von uns im Bett?«, fragt er frech. »Nein, natürlich nicht!«, erwidere ich lachend. »Woher willst du denn wissen, dass sich nicht alle Pfarrer im Bett als wilde Hengste entpuppen?« Ich liebe seinen schelmischen Blick. »Gute Frage ... Ich kann es mir einfach schlecht vorstellen. Ist es denn so?« »Das kann ich nicht beurteilen, ich habe keine meiner Kommilitoninnen über meine Konkurrenten ausgefragt. Wahrscheinlich war ich nicht als einziger Theologiestudent froh darüber, nicht katholisch zu sein, aber den Begriff der Nächstenliebe hat wohl trotzdem niemand außer mir so frivol ausgelegt.« Er schweigt einen Augenblick und bringt mich dann mit seinem nächsten Satz in Verlegenheit. »Du bist aber auch alles andere als gewöhnlich, Azraelle.« Jor- dan stellt die Frage nicht. Trotzdem erkenne ich an seinem Tonfall, worauf er anspielt. »Ja, ich habe gestern jemanden getötet, Jordan.« Die Worte kommen wie von selbst über meine Lippen. Von da 99 an gibt es kein Halten mehr. Jordan ist der erste Mensch, dem ich offenbare, wer ich bin. Ich kann mich nur vage an meine ersten und einzig glücklichen Lebensjahre erinnern. Es ist das erste Mal, dass mir der Gedanke an die Zeit bei seiner Lordschaft keine Schuldgefühle bereitet. Liegt es am Tod des Lords oder an Jordans Vertrauenswürdigkeit? Ich erzähle ihm von meinen Eltern und vom Feuersturm, der mir alles genommen hat. Jordan nimmt mich in den Arm, als ich ihm von meiner Schwester berichte, von der

ich nicht einmal sicher bin, ob sie je existiert hat. Darüber, was danach kam, bleibe ich vage. Ich erzähle, dass der Lord mich gerettet und bei sich aufgenommen hat, auch dass er inzwischen tot ist. Auch von der Lady und wie streng sie lange Zeit zu mir gewesen ist. Ich erzähle von meiner Liebe zur Musik und ich berichte ihm, dass ich zum gestrigen Mord gezwungen wurde. Jordan Hale hört mir geduldig zu, stellt mir aber keine Fragen. Danach offenbart er mir dann seine eigene, der meinen nicht unähnliche Geschichte: Jordan war von sei- ner Familie verstoßen worden, als er noch ein kleines Kind gewesen war. »Wie können Eltern nur so etwas Unglaubliches tun?« »Nun ja, meine ältere Schwester Melissa hat ihnen dafür viele Gründe geliefert. Sie hat alles Mögliche getan und es anschließend mir in die Schuhe geschoben. Weil sie gegen- über unseren Eltern den Eindruck des braven Mädchens so perfekt aufrechterhalten konnte, stand meine Schuld grundsätzlich fest. Sie wurde immer dreister und immer extremer. Das ging zuletzt so weit, dass sie unser Haus niederbrannte und mich danach beschuldigte. Da war das Maß dann voll und meine Eltern gaben mich in profes- 100 sionelle Obhut. Ich habe sie nie wiedergesehen und keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist.« Ich bin so schockiert, dass ich darauf nichts erwidern kann. »Wahrscheinlich sind sie inzwischen tot«, fährt Jor- dan fort. »In der psychiatrischen Einrichtung haben die Ärzte rasch erkannt, dass hier irgendetwas nicht stimmen konnte.


Insbesondere, als meine Eltern von einem Tag auf den anderen nicht mehr auffindbar waren. Es war nicht einfach, für mich eine Pflegefamilie zu finden, aber schließ- lich gelang es und ich durfte immerhin eine einigermaßen glückliche Jugend erleben. Seither kann ich mich über mein Leben sicher nicht beklagen. Dennoch verfolgt mich das Schicksal meiner Eltern bis heute.« »Und was ist aus deiner Schwester geworden? Wurde sie für das, was sie getan hat, zur Rechenschaft gezogen?« Jordan blickt nachdenklich an mir vorbei und schüttelt den Kopf. »Nein, das wurde sie nicht. Ich will das auch nicht.« »Aber warum nicht? Nach allem, was sie dir angetan hat?« »Ich habe ihr verziehen, Azraelle. Das hat mich mein Glaube gelehrt. Gerüchteweise hat sie ihren Namen geän- dert und wohnt jetzt irgendwo in der Nähe von London. Nach ihr gesucht habe ich nie und selbst wenn ich wüsste, wo sie wohnt, würde ich sie nicht besuchen. Ich glaube, es ist besser so. Falls wir uns wiedersehen, würde ich es viel- leicht bereuen, ihr verziehen zu haben.« »Wirst du mir auch verzeihen? Oder wirst du der Polizei berichten, was ich getan habe?« Jordan denkt einen Moment nach und erwidert dann: »Es ist nicht an mir, dir zu verzeihen, das kann nur der Herr. Meine Aufgabe ist es, den Seelen auf dieser Welt zu helfen, ihre Bürden zu tragen. Der Polizei Informationen 101 zu geben, wäre wohl kaum der richtige Weg, um diese Auf- gabe zu erfüllen.« Ich atme erleichtert aus und schlage das Bettlaken zu- rück.



Jordan lässt sich nicht zweimal bitten. Den ganzen Tag über schaffen wir es bloß einmal bis in die Küche. Die ganze übrige Zeit verbringen wir im Bett. Doch als Jordan mich gegen Abend allein lässt, um in der Kirche den Abendgottesdienst vorzubereiten, erinnere ich mich schmerzlich an meine Herrin, die nun schon seit Stunden zu Hause auf meine Rückkehr warten muss. Obwohl sich heute alles doch so gut und so richtig angefühlt hat, quält mich nun das schlechte Gewissen. Ich habe meine Aufgabe nicht zu Ende geführt. Ich habe meine Herrin allein gelassen. Sie wird sicher voller Sorge um mich sein! Ich habe einem mir fremden Mann meine Geschichte erzählt und darüber hinaus auch noch mit ihm geschlafen! Ich bin unschlüssig, was von alledem ich mei- ner Herrin beichten werde. Aber ich weiß, ich muss auf der Stelle zu ihr zurück. Ja, sie wird mich bestrafen. Das habe ich auch verdient. Ich stehe mit wackligen Beinen auf. Im Bad finde ich mein Kleid. Es ist noch immer voller Blut, aber auf dem schwarzen Stoff fällt das nicht auf. Mit einem tiefen Seufzen verlasse ich diesen Ort, an dem ich die schönsten Stunden meines Lebens verbracht habe. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, kehre zurück zu meiner Herrin. 102 Kapitel X Mordermittlung Als ich am Morgen aufwache, muss ich mich zuerst orien- tieren. Die vergangene Nacht war so unglaublich, dass ich glaube, geträumt zu haben. Doch ich habe den Beweis für das Gegenteil. Emily liegt eng angekuschelt neben mir. Ich


will sie nicht wecken, aber ich muss einfach ihre langen, blonden Haare streicheln, minutenlang. Schließlich ist es Emilys Mobiltelefon, das plötzlich auf dem Nachttisch vibriert und die Stimmung zerstört. Emily blinzelt, dreht sich um, tastet so lange vergeblich nach dem Telefon, bis es zu Boden fällt, murmelt etwas Unverständliches und hat letztlich Erfolg. Ich erkenne Inspector Taylors Stimme. Es gab einen Mord. Taylor ist off ensichtlich genervt, was sich nicht gerade bessert, als Emily auf die Auff orderung, zum Tatort zu kommen, nicht sofort reagiert. »Ja, ich weiß, Emily, es ist Wochenende. Meinen Sie vielleicht, bei mir nicht? Und Sie können Cunningham ruhig mitbringen. Sie ist bestimmt bei Ihnen. Jedenfalls konnte ich sie nicht erreichen. Ach ja, und fragen Sie sie doch gleich, wo der verdammte Briggs ist! Wäre ja eigent- 103 103 lich seine Zuständigkeit, dieser Fall, aber er ist irgendwie verschwunden.« Missmutig legt Emily auf, sieht mich an und seufzt. »Gu- ten Morgen, mein süßer Schatz«, flüstere ich und sie gibt mir einen Kuss auf die Lippen. Sofort schwebe ich wieder im siebten Himmel. »Lassen wir Taylor doch noch ein klei- nes bisschen länger warten …«, murmle ich. Emily ist ganz meiner Meinung. Es vergeht noch fast eine Stunde, bis wir in Emilys Wagen sitzen und zum Tatort fahren. Taylors Groll ist uns sicher, aber den Preis bezahle ich gern. Eigentlich wusste ich bereits, welcher Tatort gemeint ist, aber ich hatte mein Erlebnis im Haus der Baroness erfolg- reich verdrängt. So wird mir erst auf dem Weg dorthin

bewusst, wo es hingeht und dass ich mich besser unter ir- gendeinem Vorwand vor diesem Einsatz gedrückt hätte. Taylor ist gerade mit der Befragung der Haushälterin be- schäftigt, die mich glücklicherweise nicht sieht. Ich husche mit ein paar Schritten Abstand an ihr vorbei. Zum Glück sind genug andere Beamte hier, sodass eine Polizistin mehr oder weniger der gänzlich aufgelösten Frau nicht auffällt. Trotzdem muss ich höllisch aufpassen, ihr nicht später doch noch über den Weg zu laufen. Mir wird erst jetzt bewusst, wie viel Glück ich hatte, dass sie am Abend des Mordes und wohl auch am Tag danach frei hatte. »Was ist denn mit dir los, Florence?«, fragt mich Emily, während wir uns den Raum ansehen, in dem der Mord ge- schehen ist, und ich nur sehr zögerlich auf das Bett mit der Leiche zugehe. Ich fühle mich grauenhaft, fast so, als wäre ich am Tod der Baroness schuld. 104 »Nichts, warum?«, erwidere ich und stelle erschrocken fest, wie schwach meine Stimme dabei klingt. »Du wirkst ungewöhnlich nervös. Es ist ja nicht deine erste Leiche und schlimm sieht es nicht aus. Kennst du das Opfer etwa?« Ich schlucke leer und stoße dann ein »Nein, wie kommst du denn darauf?« hervor. »Na, das wurde aber auch mal Zeit!« Charleen Taylors Laune ist offensichtlich unverändert schlecht. Emily ent- schuldigt sich und Taylor mustert uns einen kurzen Mo- ment lang mit einer Mischung aus Ärger und Amüsement. Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll. Dann grinst Emilys

Vorgesetzte wissend und ihre Stimmung bessert sich schlagartig. Detective Inspector Charleen Taylor ist Briggs’ desig- nierte Nachfolgerin, sobald er in Rente geht. Sie ist eine große, schlanke Frau von etwa fünfzig Jahren mit einer Kurzhaarfrisur und graumeliertem Haar. Insbesondere weibliche Mitarbeitende schätzen sie für ihren ausgespro- chen starken Gerechtigkeitssinn und die Deutlichkeit, mit der sie diesem unter anderem auch Briggs gegenüber Aus- druck verleiht. Obwohl für mich sicher zu alt, finde ich sie durchaus attraktiv. »Haben Sie rausgefunden, wo Briggs sich herumtreibt, Cunningham?« Taylor spricht grundsätzlich nur ihre eige- nen Mitarbeitenden mit ihren Vornamen an, da ist sie aus- gesprochen strikt. »Ähm… Nein, nicht wirklich.« Ich stehe noch immer neben mir. »Ach so… Nicht wirklich… Also nehme ich an, Sie haben es auch gar nicht erst versucht?« 105 Ich zögere. Scheiße. »Nein, ich dachte…« Taylor zieht kritisch den linken Mundwinkel hoch. »Ich erwarte schon eine gewisse Eigeninitiative, Constable Cunningham. Ich verstehe schon, Sie haben wohl gerade anderes im Kopf.« Sie blickt verstohlen zu Emily, die betre- ten zu Boden sieht. »Und die Zusammenarbeit mit Briggs ist bestimmt auch schwierig. Er macht Ihnen wohl keine brauchbaren Vorgaben. Darum rate ich Ihnen, meine dafür umso mehr zu beherzigen.« »Es tut mir leid, Sir. Ich werde mir Ihre Worte merken.« Taylor lächelt milde. »Sie sind nicht hier, um sich zu ent- schuldigen Cunningham, sondern, um es besser zu ma- chen. Also grübeln sie nicht weiter darüber nach und sehen Sie zu, dass Sie Briggs auftreiben. Ich mache mir nämlich langsam wirklich Sorgen.«




Emily wirft mir einen enttäuschten Blick zu und reicht mir die Schlüssel zu ihrem roten Mini Cooper. Ja, auch ich wäre jetzt lieber mit ihr zusammen. Darüber, dass ich aus diesem Haus rauskomme, bin ich trotzdem froh. Schau dir einfach bitte bloß die Bilder nicht zu genau an … Auf dem Weg hinaus begegnet mir tatsächlich die Haus- hälterin der Baroness. Ich sehe sie nur kurz an und nicke ihr zum Gruß zu. Sie bleibt stehen und ich kann ihr an- sehen, dass sie irritiert ist. Mist! Hoffentlich kommt sie nicht darauf, woher sie mich kennt. Ich fahre zu Briggs’ Wohnung. Er wohnt in einem her- untergekommenen Arbeiterviertel in einem Londoner Außenquartier. Emilys Wagen parke ich am Straßenrand vor dem Zaun. Dahinter steht das Gras meterhoch. Ich bli- cke ungläubig auf den Namen am Türschild. »Pixie & Cal- 106 deron Briggs« lese ich. Pixie? Was zum …? Ich bin mir vollkommen sicher, Briggs ist nicht verheiratet. Zwischen dem hohen Gras führt ein Weg mit aufgesprungenen Be- tonplatten zur Eingangstüre des alten Reihenhauses. Be- unruhigenderweise steht die Türe einen Spaltbreit offen und ich kann Einbruchsspuren erkennen. Ich ziehe meine Waffe und stoße die Tür vorsichtig auf. Der Flur und die Küche sind leer, doch aus dem Wohnzimmer höre ich ein Geräusch. Was muss ich nun tun? Verstärkung anfordern? Mutig ins Wohnzimmer stürzen? Erst alle anderen Räume überprüfen? Ich strecke kurz meinen Kopf ins Wohnzim- mer und sehe die Blutlache. Briggs! Ich renne hinein und erschrecke gleich doppelt.


Erstens Briggs’ wegen, der reglos in seinem Blut vor dem Sofa liegt und zweitens wegen der jungen Frau, die sich im Negligé auf dem Sofa räkelt. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, was sie in Wirklichkeit ist: Eine ausgesprochen realistische, lebensgroße Puppe. Pixie … Ich ignoriere das Mädchen und knie mich neben Briggs in die rote Lache. »Briggs? Sir?«, flüstere ich. Doch er re- agiert nicht. Ich kontrolliere Atmung und Puls. Da öffnet er ganz leicht die Augen und versucht, zu sprechen. »Halten Sie still, Sir. Ich rufe den Krankenwagen.« Briggs greift kraftlos nach meiner Hand. »Nein, Flo- rence …«, röchelt er. Ich kann ihn kaum verstehen und beuge mich zu ihm herunter. »Azraelle …«, glaube ich zu hören. »Beschützen … Mephista … Hale …« Sein Blick wird starr. Einige Minuten versuche ich noch, ihn wieder- zubeleben. Weil bei der Herzdruckmassage aber schwall- weise Blut aus der Wunde in seinem Brustkorb strömt und bei den Beatmungsstößen nicht der geringste Effekt 107 erkennbar ist, muss ich aufgeben und rufe schließlich Tay- lor an. Als ich ihr gerade meine grausame Entdeckung mit- geteilt habe, höre ich, wie jemand aus dem oberen Stock die Treppe herunterrennt. Ich stürze mit gezogener Waffe hinaus in den Flur, kann aber nur noch sehen, wie eine dunkelhaarige Frau aus der Tür auf die Straße rennt. Ich verfolge sie, doch bereits nach wenigen Straßenecken habe ich sie verloren. Keine Ahnung, wie Taylor es geschafft hat, so schnell hier zu sein.


Sie schafft es sogar noch vor der Ambulanz, die jedoch unverrichteter Dinge wieder abzieht. Während ich gemeinsam mit Taylor auf die Spurensi- cherung warte, bestaune ich wortlos die Liebespuppe auf dem Sofa. »Unglaublich lebensecht, nicht wahr?« Ich war gerade so geistesabwesend, dass Taylors Frage mich zusammenzu- cken lässt. »Tatsächlich«, erwidere ich trocken. »Hätte ich nicht von ihm erwartet.« »Bevor Sie voreilige Schlüsse ziehen, Cunningham, schauen Sie sich das Bild dort drüben mal an.« Ich drehe mich zur Seite. Mit zusammengekniffenen Au- gen mustere ich die alte Hochzeitsfotografie. »Aber … Das ist ja unglaublich!« »Genau … Wie ich schon sagte, Cunningham. Nicht zu früh urteilen. Er hat sich diese Puppe nicht zum bloßen Vergnügen machen lassen, sondern um das Gefühl zu ha- ben, sie wäre noch immer hier.« »Wissen Sie, was mit ihr geschehen ist, Sir?« Taylor nickt. »Ja. Briggs hat es mir einmal erzählt, an 108 einem Weihnachtsessen vom Revier, nach zu viel Whisky. Sie war schon vor der Hochzeit krank. Trotzdem hat er sie geheiratet, weil er sich nicht vorstellen konnte, jemals eine andere zu lieben. Sie starb ein halbes Jahr nach der Hochzeit.« Ich schlucke schwer. Es tut mir leid, Sir, entschuldige ich mich in Gedanken. Ich habe mich wohl in Ihnen getäuscht. Taylor klopft mir aufmunternd auf die Schulter und bis zum Eintreffen der Spurensicherung erzähle ich ihr alles, was ich weiß, während ich meine Knie von Briggs’ Blut befreie. Auf unseren Handys suchen wir fieberhaft nach »Azraelle«, »Mephista« und »Hale«. Zu Azraelle finde ich



nichts Brauchbares, aber die Adresse von Martin und Me- phista Dowland-Hale klingt vielversprechend. Inspector Taylor überlässt den Tatort der Spurensicherung, um mit mir dorthin zu fahren. »Mephista Dowland-Hale?«, fragt Taylor die Frau, welche uns die Tür öffnet. »Ihre Ladyschaft ist in der Bibliothek. Wen darf ich ihr melden?« Taylor zieht ihre Dienstmarke hervor und ich tue es ihr gleich. »Detective Inspector Taylor und Constable Cun- ningham von der Metropolitan Police. Aber machen Sie sich keine Mühe, wir stellen uns gerne selbst vor.« »Ich weiß nicht, ob sie Zeit hat, sie zu empfang-« Taylor schneidet ihr das Wort ab, schiebt die Haushälte- rin zur Seite und tritt ein. Sie folgt uns aufgebracht durch das beeindruckend große Haus. Taylor findet die Bibliothek auf Anhieb, als sie die erstbeste Tür aufstösst. »Die Damen sind von der Polizei, Mylady«, erklärt die 109 Haushälterin empört, als wir uns vor dem Schreibtisch auf- bauen, an dem eine große, schlanke Frau sitzt, deren Haare noch viel roter sind als meine. »Ich bitte um Entschuldi- gung, aber sie ließen sich nicht aufhalten.« Die Frau am Schreibtisch lehnt sich zurück, faltet die Hände vor der Brust, mustert uns einen Augenblick und fragt dann: »Nun denn, was kann ich für Sie tun, Detec- tives?« Mich schüchtert sie fast ein wenig ein mit ihrer Körper- haltung. Taylor dagegen reagiert vollkommen ungerührt, stellt uns nochmals vor und kommt danach gleich zum Punkt. »Ich entschuldige mich für unser unangemeldetes Eindringen, aber wir ermitteln im Mord an einem unserer Kollegen.«



»Ich bedauere, dies zu hören, Inspector. Doch was habe ich damit zu tun?« »Die letzten Worte des Kollegen waren Azraelle, Me- phista und Hale. Mindestens zwei davon führen hierher, wovon zumindest der Name Mephista nicht gerade geläufig ist«, platze ich heraus. Taylor wirft mir einen kritischen Blick zu und ich verstumme. Mephista Dowland-Hale lächelt siegessicher. »Dies ist ein freies Land, Constable. Es stand meinen Eltern ebenso frei, mir einen Namen zu geben, wie es mir freisteht, mir einen neuen zu wählen. Ich bin mir sicher, sie finden heraus, wel- che Seite daran schuld ist, dass ich nun so heiße, auch wenn es für ihre Untersuchung absolut keine Rolle spielt.« Die Selbstsicherheit der Lady macht mich nervös und ihre Arroganz sauer. »Dürfte ich mich hier etwas umsehen?« Taylor tritt mir auf den Fuß, doch zu unser beider Erstau- nen antwortet Mephista: »Wenn es Ihnen Freude macht. 110 Whitney wird sie herumführen. Sie haben zwar sicher kei- nen Durchsuchungsbefehl, wie ich annehme, aber ich habe auch nichts zu verbergen. Wollen Sie in der Zwischenzeit nicht Platz nehmen, Inspector Taylor?« Nun ist auch Taylor ziemlich verblüfft. Sie setzt sich, wäh- rend die Haushälterin mich aus der Bibliothek führt. Dabei fällt mein Blick auf das Cello. »Ein schönes Instrument, wer spielt es denn?« »Ein Mädchen, das hin und wieder hier zu Gast ist.« »Wie heißt sie?« »Ich denke, es genügt völlig, hier unangemeldet einzu- dringen, Constable. Ihre Ladyschaft ist äußerst großzügig, Ihnen einen Blick in ihre Gemächer zu gestatten. Ich werde


Ihnen sicher nicht auch noch ihre familiären Verhältnisse offenlegen«, erwidert Whitney professionell und kühl. Ich ignoriere die Spitze und frage weiter: »Und seine Lordschaft? Ist er heute zu sprechen?« »Seine Lordschaft hat diesen Ort leider verlassen.« »Wann wird er wiederkommen?« »Oh, ich gehe nicht davon aus, dass er dies überhaupt tun wird, Constable. Und bevor Sie fragen: Selbst wenn ich es wüsste, würde ich Ihnen seinen Aufenthaltsort nicht nennen.« »Sie sind sehr pflichtbewusst, Whitney«, erwidere ich schnippisch, doch die Haushälterin geht nicht darauf ein. Mir ist es sehr recht, dass ich mich ohne die Begleitung von Inspector Taylor umsehen kann. Sollte ich hier tatsäch- lich auf Azraelle treffen, könnte das im besten Fall pein- lich werden. Wenn sie dieselbe Azraelle ist, mit der ich bei der Baroness war, dann muss ich unter allen Umständen verhindern, dass sie Taylor von diesem unseligen Abend 111 mit mir irgendetwas erzählt. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, Briggs’ letzter Wunsch an mich sei es gewesen, Azraelle zu schützen und nicht Mephista. Obwohl, wenn sie das Mädchen bei Briggs war, das vor mir geflohen ist … »Das Mädchen mit dem Cello …«, nehme ich meine Be- fragung wieder auf. »Sie hören wohl nie auf, was?« »… in welchem Verhältnis steht sie zur Familie? Ist sie die Tochter?« »Mehr als das«, antwortet Whitney. »Dann würde ich gerne ihr Zimmer sehen.« Die Haushälterin ist sichtlich genervt. Mit strammem Schritt führt sie mich die Treppe hinauf und öffnet eine Tür am Ende des Flurs. »Bitte.«




Ich trete ein in eine rosafarbene Welt und bekomme al- lein schon vom Anblick Zahnschmerzen. Viel zu sehen gibt es allerdings nicht. Ein Bett, ein Stuhl, ein Sessel und ein Nachttisch mit einer lädierten Spieluhr. Als ich diese aufklappe, erklingt »Twinkle, twinkle, little star« und eine kleine Ballerinafigur dreht Pirouetten. Ich kann es mir nicht erklären, aber irgendetwas an diesem zuckersüßen Zimmer finde ich gruselig. Das in der Bibliothek ist kein Kinderinstrument, sondern ein ausgewachsenes 4/4-Cello. Warum in aller Welt bewohnt diese Frau also hier ein so steriles Mädchenzimmer? Da mir Whitney die Frage sicher nicht beantworten wird, stelle ich sie gar nicht erst und gehe ins angrenzende Bad. Ein Kinderzimmer mit eigenem Bad? Schick … Alles ist sehr ordentlich und an einigen Utensilien kann ich die Bestä- tigung sehen: Ja, hier lebt – zumindest zeitweise – eine er- wachsene Frau. Und sie legt ausgesprochen viel Wert auf 112 ihr Äußeres. Genau wie die Azraelle, die mir begegnet ist. Kein Wunder gruselt mich das. Es wirkt wohl schon beinahe wie eine Flucht, wie ich aus dem Zimmer eile. Die vielen übrigen Räume des großen Hauses wirken auf mich zwar beeindruckend, aber den- noch normal. Die Haushälterin öffnet bereitwillig alle Tü- ren, wie die Lady es ihr aufgetragen hat. Sobald ich jedoch in den Keller will, begehrt sie auf. »Ich denke, das genügt jetzt wirklich, Constable! Ihre Ladyschaft war sehr großzü- gig, Ihnen ohne Durchsuchungsbeschluss so viel Einblick in ihr Anwesen zu geben.« »Das ist sicher richtig.




Allerdings macht mich ihre Wei- gerung jetzt natürlich neugierig.« »Constable Cunningham?« Ich drehe mich um. Charleen Taylor bedeutet mir mit einer Kopfbewegung, dass es Zeit ist, zu gehen. Missmutig folge ich ihr unter dem zufriede- nen Blick der Haushälterin, verabschiede mich im Vorbei- gehen kurz von Lady Dowland-Hale und trete hinaus in den Regen. »Was haben Sie herausgefunden, Cunningham?«, fragt mich Taylor auf dem Weg zu ihrem Wagen. »Nicht viel, das allerdings ist dafür reichlich eigenartig.« Ich erzähle ihr vom rosa Zimmer und dem Keller, der mir verwehrt wurde. Ihr ist das Cello ebenfalls aufgefallen und überraschen- derweise war Lady Dowland-Hale ihr gegenüber offener, als es die Haushälterin bei mir war. »Sie hat wohl ein Waisenmädchen bei sich aufgenommen, das inzwischen schon eine erwachsene Frau sein muss, und nur noch selten nach Hause kommt. Offenbar hat sie ihre Familie bei einem Brand verloren und Lady Dowland-Hale 113 hat sie ihren Angaben nach gerettet. Irgendetwas an der Geschichte erscheint mir allerdings faul.« Mir wird flau im Magen. »Hat sie ihren Namen genannt?« Taylor schüttelt den Kopf. »Nein, das hat sie nicht.« 114 Kapitel XI Die Pfl icht Das metallische Klacken an der Tür kündigt die Ankunft meiner Herrin an. Endlich! Es fühlt sich an, als säße ich schon seit Tagen hier unten in der Dunkelheit. Das her- einfallende Licht blendet mich. Ich robbe sofort zu meiner Herrin hin und küsse inbrünstig ihre Füße. Meine Ketten klirren und die Lady weicht zur Seite, um mir mit ihren

Lackstiefeln einen Tritt in die Lenden zu verpassen. Sie ist also immer noch sehr wütend auf mich. Aber hoff entlich nicht mehr ganz so sehr wie noch bei meiner Rückkehr. Ich hatte mich noch im Eingang ausziehen müssen. Da- nach peitschte sie mich aus, bis ich das Bewusstsein verlor. Ich kam erst wieder hier unten zu mir. Es war die ganze Zeit über stockdunkel und totenstill, was mich schon nach kurzer Zeit halb wahnsinnig machte. »Die Häscher waren hier, Azraelle. Du weißt sicher wes- halb?« »Meinetwegen, Herrin?«, wimmere ich. Die Lady schnaubt verächtlich. »Natürlich deinetwegen, du unwerte Kreatur! Gut nur, dass Whitney und ich alle Spuren in der Bibliothek rechtzeitig beseitigen konnten. 115 115 Es hat einiges an Redekunst gebraucht, sie davon zu über- zeugen, mir zu helfen und niemandem davon zu erzählen Was hast du dir bloß dabei gedacht, diesen Polizisten auf- zusuchen?« »Ich … Ich habe ihn nicht aufge-… aua!« Die Lady schlägt mir mit der flachen Hand mitten ins Gesicht. »Es ist die Wahrheit! Bitte, so glaubt mir doch, Herrin!« Meine Stimme ist kaum hörbar, klingt schrill und verzwei- felt. Ich heule hysterisch, weil ich erwarte, dass sie mir er- neut wehtut. Doch als das ausbleibt und ich aufsehe, hat sie sich zu mir heruntergebeugt und mustert mich kritisch. »Na gut, lass hören!« »Er hat mich mitgenommen, Herrin. Mit seinem Wagen. Er hat plötzlich neben mir gehalten und das Fenster her- untergelassen. ›Steig ein, Azraelle, du bist in Gefahr‹, hat er zu mir gesagt.



Ich … wollte natürlich erst nicht. Ich darf das doch nicht. Ich weiß das, Herrin. Doch dann … dann hat er mich vor den Dämonen der Hölle gewarnt, die mir schon auf den Fersen seien, und da bin ich mit ihm mit- gegangen. Zu ihm.« »Wenn du mir jetzt noch sagst, dass du es mit ihm ge- trieben hast, du kleine Schlampe, dann bring’ ich dich um!« »Nein, nein, nein, niemals, Herrin. Er wollte nichts von mir.« Ich spreche so schnell, dass sich meine Stimme über- schlägt. »Er hat mich nach oben geschickt und mir gesagt, ich solle mich verstecken. Und dann ist wirklich jemand gekommen! Es muss dieser Dämon gewesen sein. Der hat gegen ihn gekämpft und auf ihn eingestochen. Nachdem der Dämon weg war, bin ich zu ihm hin, aber er hat mich wieder hochgeschickt. Ich sollte dort warten, bis die Polizei 116 kommt. Und dann kam jemand. Ich glaube, es war eine junge Frau. Aber sie war allein und trug keine Uniform. Ich hatte Angst, dass sie auch ein Dämon ist, und bin da- vongerannt, so schnell ich konnte. Dann bin ich zu Euch zurückgekommen, Herrin. Ich werde nie, nie wieder fort- gehen. Ich verspreche es. Ich werde alles tun, was ihr ver- langt. Aber …« Ich fühle eine Hand in meinem Haar und weiche ängst- lich zurück, doch die Hand folgt mir unerbittlich. Mein Kopf wird leicht nach oben gezogen und ich schaue zu mei- ner Herrin auf. Sie wirkt nicht mehr ganz so wütend.





»Das war dumm, Azraelle.« »Ja, Herrin, das war dumm von mir und ich war unfolg- sam. Ich habe jede Strafe verdient, die Ihr mir schenkt.« »Genau, das hast du. Aber du hast deinen Auftrag aus- geführt und ich weiß, wie schwer das für dich war. Am Ende ist ja nichts Schlimmes passiert. Daher bin ich gnädig mit dir.« »Oh, danke, Herrin. Danke, danke, danke.« Ich küsse ihre Füße wieder und wieder, bis sie mir befiehlt, damit auf- zuhören. Sie schließt meine Ketten auf. Dann darf ich erst die Zelle reinigen und danach auch meinen Körper. Whit- ney kocht mir sogar Abendessen und bringt mich danach ins Bett. Mir fällt sofort auf, dass der Deckel der Spieluhr offen steht. Den habe ich nicht offen gelassen. Das weiß ich. »War jemand in meinem Zimmer, Whitney?« Die Haushälterin sieht mich irritiert an. »Nein, natürlich nicht. Wer sollte denn hier gewesen sein, Azraelle?« Ich erwidere nichts, schlüpfe unter die Decke, ziehe die Spieluhr auf und schlafe bald darauf ein. 117 Am nächsten Morgen sitzt die Lady im Sessel neben mei- nem Bett. Ich stehe rasch auf und knie mich vor sie hin. Noch immer erwarte ich eine Ohrfeige oder eine andere Strafe, doch stattdessen streichelt sie sanft meine Wange. »Wir müssen uns unterhalten, kleine Azraelle.« »Ja, Herrin. Habe ich noch etwas falsch gemacht?« »Nein, Wir müssen über deine Zukunft sprechen.« »Meine … Zukunft, Herrin? A-aber meine Zukunft ist doch hier bei Euch?« Mein Herz setzt einen Schlag aus und

meine Hände werden feucht und kalt. Will mich meine Her- rin etwa nicht mehr bei sich haben, weil ich sie enttäuscht habe? »Natürlich, mein Kind.« Ich bin erleichtert über diese Antwort. »Aber du bist eine erwachsene Frau und du hast eine Pflicht zu erfüllen. Eine ausgesprochen wichtige so- gar.« »Ja, ich muss in Eurem Auftrag die Dämonen töten, Her- rin.« »Das ist nur ein Teil deiner Pflicht, Azraelle. Es gibt noch einen weitaus wichtigeren.« »Ich erfülle jede Pflicht, die Ihr mir auferlegt, Herrin.« »Das erwarte ich auch von dir, Azraelle. Trotzdem, es ist etwas völlig anderes als alles Bisherige.« Meine Anspannung steigt. »Bitte sagt es mir, Herrin.« »Ein Kind, Azraelle.« »Ein … ein Kind?« »Genau, ein Kind. Und mein Bruder soll sein Vater sein.« Ich knie mit offenem Mund vor meiner Herrin und weiß nichts mehr zu sagen. »Ja, ich weiß, Azraelle. Das macht dir Angst. Aber ich versichere dir: Er ist ein sehr freundlicher und guter Mann. 118 Er ist hier in der Nähe Pfarrer.« Die Lady nimmt ihre Hals- kette mit dem Medaillon ab und reicht es mir. Ich greife danach und öffne es mit zittrigen Fingern. Beim Anblick des Fotos, welches zum Vorschein kommt, gebe ich ein freudiges Quieken von mir. Er wirkt zwar jünger auf dem Bild, aber er ist es ohne jeden Zweifel. Reverend Jordan Hale, der Mann, mit dem ich nach meinem letzten Mord Sex hatte, ist der Bruder meiner Herrin! Oh mein Gott! Soll ich ihr sagen, dass ich ihn bereits kenne?



Dass ich mit ihm geschlafen habe? »Oh, er gefällt dir? Umso besser!« Meine Herrin lächelt erfreut. »Wichtig ist allerdings, dass er nichts über mich erfährt, Azraelle. Absolut gar nichts. Hast du verstanden?« »Ja, Herrin.« Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mir wird gerade bewusst, was Jordan mir über seine Schwester erzählt hat. »Ich habe dich die Kunst der Verführung gelehrt. Dieses Mal musst du nun einfach zu Ende führen, wo du bisher immer aufgehört hast. Ihn sollst du auch nicht töten. Oder zumindest erst, wenn er seinen Zweck erfüllt hat.« »Soll ich heute zu ihm, Herrin?« Ich freue mich unbändig darauf, Jordan Hale wiederzusehen, und das sogar mit Er- laubnis meiner Herrin. Ja, ich habe sogar die Pflicht, das Allerschönste mit ihm zu tun, was Gott den Menschen auf- getragen hat. Das macht mich ganz hibbelig. Meine Herrin lacht. »Einen Moment, Azraelle, nicht so schnell! Vorher habe ich noch eine andere Aufgabe für dich. Sobald du diese erledigt hast, darfst du dich der anderen widmen.« »Welchen Wunsch darf ich Euch denn zuvor noch er- füllen, Herrin?« 119 Die Lady lehnt sich zurück und klopft einladend auf ihren Schoß. Ich setze mich auf ihre Schenkel und lasse die Beine seitlich über die Lehne baumeln. Die Lady schlingt einen Arm um mich, hält mich wie ein Kind und erklärt mir meinen nächsten Auftrag. 120 Kapitel XII Das Attentat Es ist sicher nicht meine leichteste Übung, aber im Grunde macht es für mich keinen Unterschied, wen ich beseitige.




Was meinen heutigen Auft rag so einzigartig und schwie- rig macht, ist die Berühmtheit meiner Zielperson. Nathan Benedict-MacAndrew ist der Sohn von Premierministe- rin Ginnifer Benedict und der vorerst letzte Dämon, dem ich mich widmen soll, sagt meine Herrin. Er gilt als Lebe- mann und liebt das Scheinwerferlicht. Eine solche Person bekommt man nicht so leicht zu fassen, selbst als attraktive junge Frau nicht. Mich einfach an der Bar an ihn heranzu- machen, wird nicht funktionieren, weil er von seinen Body- guards abgeschirmt wird, und ich darüber hinaus noch jede Menge Konkurrentinnen habe, die um seine Gunst buhlen. Aber Männer wie Nathan haben alle denselben Fehler: Sie sind eitel. Gib ihnen das Gefühl, sie zu vergöttern, und du hast sie in der Hand. Ich beobachte das Geschehen ums und im Hotel zwei volle Tage lang. Dann weiß ich Bescheid. Nathan Benedicts Hauptwohnsitz ist in einem schottischen Schloss. Es ist das Elternhaus seiner Frau. Die Beziehung ist allerdings – wenn man der Klatschpresse Glauben schen- 121 121 ken kann – relativ angespannt. Ob seine ständigen Aus- flüge nach London Ursache oder Wirkung dieser Spannun- gen sind, wird immer wieder heiß diskutiert. Genauso wie die ständig wechselnden Begleiterinnen, mit denen er in der Hauptstadt gesehen wird. Obwohl ich bereits nach zwei Tagen einen Plan habe, muss ich mich weitere drei gedulden, um ihn ausführen zu können. An diesem Abend beobachte ich zufrieden, wie Nathan Be- nedict sich in der Bar mit der hübschen Blondine verkracht,


die ihn die letzten Tage über begleitet hat, und die danach wutentbrannt das Hotel verlässt. Er trinkt seinen Whisky auf ex und geht danach zum Aufzug. Natürlich habe ich mich bereits informiert, wo er residiert: in der Präsidenten- suite. Auch das macht die Aufgabe nicht einfacher. Zielstre- big gehe ich zwei Stockwerke die Treppe hinunter in den Keller. Hier befindet sich die Wäscherei. Dort habe ich mir schon vor zwei Tagen die Kleidung eines Zimmermädchens ausgeborgt, die ich anschließend in einem Feuerlöschpos- ten versteckt habe. Ich hole das Paket heraus, um damit auf der nächstgelegenen Damentoilette zu verschwinden, wo ich mich in eine Hotelangestellte verwandle. Das Ober- teil spannt leicht über meinen Brüsten und mein Po fin- det nur knapp in dem Kleidchen Platz. Meine weiblichen Reize kommen also eindeutig zur Geltung, ohne sie gleich allzu offensichtlich zur Schau zu stellen. Die langen, dunk- len Haare stecke ich zu einem züchtigen Dutt hoch, lasse aber eine Strähne übrig, die sich neckisch an mein Gesicht schmiegt. Meine ohnehin schon tiefgründigen, braunen Augen schminke ich eine Spur zu dunkel, um mir einen 122 verwegenen Gothic-Touch zu verleihen, und mein tiefroter Lippenstift rundet meine Rolle ab. Ich bewege meinen Kopf kurz nach rechts und links, mustere mich dabei, probiere mein verführerisches Lächeln aus und verlasse danach ziel- strebig die Toilette in Richtung Aufzug. Das Glück ist mir hold. Unterwegs wartet ein Servierwa- gen mit einer Flasche Champagner auf mich, den ich mir kralle und nach oben bringe. Selbstverständlich kann man auch als Zimmermädchen





nicht einfach so in die Präsidentensuite stürmen. Nathan Benedict ist vorsichtig. Nicht bei der Anzahl seiner Affä- ren, aber dafür, was seine Sicherheit anbelangt. Der Gorilla vor seiner Tür hält mich auf, bevor ich anklopfen kann. Doch ich lasse mich nicht beirren, weshalb er mich anfas- sen muss, um mich von meinem Vorhaben abzubringen. Das wiederum quittiere ich mit einem gellenden Aufschrei. »Finger weg! Was soll das?«, keife ich und füge ihm mit meinen dunkel lackierten Fingernägeln einen schmerzhaf- ten Kratzer im Gesicht zu. Der Bodyguard nimmt mich in den Polizeigriff und ich schreie erneut, woraufhin sich die Tür öffnet und ein sportlicher Mann Anfang dreißig im weißen Morgenmantel vor uns steht. »Mister Dickens, hätten Sie vielleicht die Güte, mir zu erklären, was dieser Radau vor meiner Tür soll?« Der harte Griff um meine Arme lockert sich, was mir die Möglichkeit gibt, mich loszureißen. Wie ein schüchternes Mädchen stehe ich neben dem vierschrötigen Mann, der leicht verdattert nach einer Erklärung sucht. »Sie … sie wollte einfach anklopfen, Sir.« »Natürlich, Sie Idiot! Sie ist ja auch ein Zimmermädchen, was sollte sie wohl sonst tun?« 123 »Ich … Ich wollte doch nur Ihre Bestellung hochbrin- gen, Mister Benedict …« Ich reichere meine zuckersüße Mädchenstimme mit einer Spur Weinerlichkeit an, mime aber zugleich auch ganz dezent die Beleidigte. Mit leicht gesenktem Kopf blicke ich Nathan Benedict unterwürfig an. Er mustert mich kurz und setzt ein Lächeln auf. »Ich kann mich zwar nicht erinnern, etwas bestellt zu haben,

aber wenn Sie nun schon mal hier sind, sage ich nicht nein.« Er bedeutet mir mit einer einladenden Handbewegung, den Servierwagen in die Suite zu bringen. Ich lasse meine Hände ein wenig zittern, als ich nach dem Wagen greife, und husche hinein, als müsste ich vor dem Bodyguard flüchten. Von drinnen höre ich, wie der von Benedict leise, aber mit ausgesprochen deutlichen Worten zusammenge- staucht wird, und lache in mich hinein. Das war einfach. Ich weiß nicht, ob meine laszive Pose beim Öffnen der Champagnerflasche wirklich nötig gewesen wäre, denn als ich mich umdrehe, hat Nathan Benedict die Tür bereits geschlossen und kommt auf mich zu. »Entschuldigen Sie bitte die schlechten Manieren meines Bodyguards, Miss. Es ist schwierig, für diese Aufgabe zu- verlässige Leute zu finden. Darf ich Sie als Entschuldigung zu einem Gläschen einladen?« Ich nicke, wobei ich langsam das dümmliche Mädchen- getue ablege und mich in den Vamp verwandle, den ich ebenfalls bestens beherrsche. »Sagst du mir deinen Namen?«, fragt er mich, sobald ich ihm das Glas reiche und mein eigenes hebe. »Azraelle«, erwidere ich und lasse meinen Augenauf- schlag spielen. Nathan wirkt kurz so, als würde er nachdenken. Darum 124 lasse ich die Gläser klingen, nehme einen Schluck und übernehme die Führung. Minuten später ist der Morgen- mantel weg, Nathan liegt auf dem Bett und ich sitze ritt- lings auf ihm. Meine Hände gleiten mit sanftem Druck über seine Brust. Ich beuge mich vor und küsse ihn. Meine



Lippen suchen sich ihren Weg hinunter und tun dort das, was Männer ganz besonders mögen, und was ich ihnen oft zum Abschied schenke. Sobald ich damit fertig bin, komme ich wieder hoch, ziehe die Beretta hervor und richte sie auf ihn. In diesem Moment öffnet er seine Augen und noch bevor er die Waffe sieht, weiß er, wer ich bin. »Saint George Manor! Von dort kenne ich dich! Du warst das Mädchen mit dem Cello!« Um ein Haar hätte ich abgedrückt. Doch stattdessen nehme ich den Finger vom Abzug und lasse die Waffe sin- ken. Der Orden! Er gehört zum Orden! Hat die Lady sich etwa geirrt? Waren unter den letzten Zielpersonen viel- leicht noch andere Mitglieder des Ordens? Die Baroness etwa? Habe ich vielleicht Unschuldige getötet? Ich bin wie gelähmt. »Dickens!«, schreit Nathan und Sekunden später steht der vierschrötige Bodyguard schon neben uns und reißt mich vom Bett. Ich hätte nicht geschossen. Wirklich nicht. Aber es ist sinnlos, das zu beteuern, und so warte ich reglos, bis die Polizei kommt und mich verhaftet. 125 Kapitel XIII Die Täterin Ich sehe sie durch die Panzerglasscheibe an. Sie ist so un- glaublich schön. Selbst im Kleidchen eines Zimmermäd- chens des Savoy Hotels strahlt sie Erhabenheit aus. Ich bin mir nicht sicher, ob es allen so geht, wenn sie Azraelle ge- genüberstehen. Ich jedenfalls möchte mich am liebsten vor ihr niederknien und sie anbeten. Ihr Anblick wirkt magisch auf mich, selbst in Handschellen und an den Verhörtisch gefesselt.

Es hat einiges an Überredungskünsten gebraucht, Inspec- tor Taylor davon zu überzeugen, mich das erste Verhör mit ihr führen zu lassen. Da sie nun aber nebst ihrem eigenen Job auch noch den von Briggs an der Backe hat und den, im Gegensatz zu ihm, ernst nimmt, ist sie notorisch überlastet, weshalb sie letztlich doch eingewilligt hat. Ich stehe schon mindestens zwanzig Minuten vor dieser dämlichen Scheibe und rede mir ein, mich damit professio- nell zu verhalten, weil man Verdächtige mit Warten schon vor dem Verhör nervös machen kann. In Wirklichkeit habe ich Angst. Ich weiß absolut nicht, was dieses faszinierende Wesen im Verhör mit mir machen wird. Ich fürchte, sie 127 127 wird das Gespräch bestimmen und nicht ich. Letztlich reiße ich mich dann doch los, denke nicht mehr nach, verlasse den Beobachtungsraum und trete mit strammem Schritt in das Verhörzimmer. Azraelle wendet sich mir sofort zu und lächelt mich an. »Guten Morgen, Florence. Es ist schön, dich wiederzuse- hen.« »Constable Cunningham, bitte«, erwidere ich bestimmt. Doch in meiner Stimme schwingt jede Menge Unsicher- heit mit. Azraelle verzieht keine Miene und lächelt mich weiterhin an. Ich setze mich ihr gegenüber, öffne die Akte und blättere planlos darin herum. Mist! Womit soll ich bloß anfangen? Ich versuche, mich zu konzentrieren. »Gut, beginnen wir mit den Formalitäten. Nennen Sie mir bitte Ihren Namen.« »Du kennst meinen Namen, Florence.« »Für Sie immer noch Constable Cunningham, bitte. Und nein, das tue ich nicht.« »Nun gut.« Sie reagiert sehr gelassen. »Azraelle.« Ich blicke auf.



Sie ist so unglaublich. Ihre Augen, dieses perfekte, ebenmäßige Gesicht. Ich möchte sie küssen. »Nach-, äh, Nachname?«, hauche ich. »Kein Nachname. Einfach Azraelle.« Ich erinnere mich an meine erste Nacht mit Emily. Ich bin ein Engel, hat Emily zu mir gesagt. Ist Azraelle womög- lich auch einer? Ich habe mich nie sonderlich für Religion interessiert, aber Azrael ist doch der Engel des Todes, soviel ich weiß. »Sind Sie ein Engel, Azraelle?« Meine Güte, was frag’ ich da für einen Scheiß? 128 »Ich weiß es nicht, Florence. Ich weiß nur, dass ich eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe.« »Den Sohn der Premierministerin umzubringen?« End- lich bringe ich eine kritische Frage über die Lippen. »Nein, das war zwar mein Auftrag, aber mit dem stimmte etwas nicht. Deshalb habe ich ihn nicht ausgeführt.« »Und haben sich einfach verhaften lassen?« »Es ist nicht richtig, wenn Unschuldige zu Schaden kom- men.« »Ach? Und wer entscheidet darüber, wer schuldig ist?« »Der Orden.« »Welcher Orden?« »Der Orden, dem ich diene.« »Nennen Sie mir bitte Namen.« »Ich kenne nur Martin Dowland-Hale. Das ist der Name seiner Lordschaft.« »Wo kann ich ihn erreichen?« »Im Jenseits.« Ich schlucke leer. Hat sie gerade wirkliche einen weiteren Mord zugegeben? »Haben Sie ihn umgebracht, Azraelle?« Zum ersten Mal wirkt Azraelle unsicher. »Es war ein Auf- trag der Lady. Sie hat gesagt, es müsse sein. Sie belohnt mich immer, wenn ich ihre Aufträge ausführe. Das, was sie dann mit mir tut, ist so wunderbar.« Beim letzten Satz hat sie ein Leuchten in ihren Augen.



»Lady … Mephista …?« »Ich kenne ihren Namen nicht. Ich kenne auch keine Na- men von weiteren Mitgliedern des Ordens. Ich kenne auch nicht ihre Gesichter. Sie trugen alle Masken.« »Masken …«, flüstere ich tonlos. Ist das irgendeine per- verse Sekte, oder was? 129 »Mit einer Ausnahme.« Mit einem Mal blicke ich auf. »Da war dieser Polizist. Er wollte mir helfen. Doch ein Dämon hat ihn getötet, bevor er das tun konnte.« »Briggs.« Ich lasse mich in meinem Stuhl nach hinten fallen. Er wollte Azraelle beschützen und mir mitteilen, nun dasselbe zu tun. Ich verstehe zwar noch nicht genau wieso, aber ich vertraue ihm. Offenbar war er in etwas wirklich Großes in- volviert. Etwas, das ein einfacher Mensch nicht versteht. Das, was ich von diesem Augenblick an tue, geschieht wie von selbst. »Steh auf, Azraelle.« »Bitte?« »Steh bitte auf!« Azraelle erhebt sich erstaunt und ich schließe ihre Hand- schellen auf. Dann packe ich sie am Arm und führe sie aus dem Verhörzimmer. Ich blicke vorsichtig nach links und rechts, dann eilen wir den Flur entlang zum Notausgang. Die Türe hinaus ist nur angelehnt. Ich treffe mich hier hin und wieder mit ein oder zwei anderen Polizeibeamten, um heimlich eine Zigarette zu rauchen. Besonders dann, wenn Briggs mich mal wieder auf die Palme gebracht hat. »Hier geht es zur Feuertreppe. Sieh zu, dass dich niemand sieht. Ich wünsche dir alles Gute bei deinem Auftrag, Az- raelle.« »Du lässt mich laufen? Aber was geschieht dann mit dir?«





»Geh jetzt, bevor ich es mir anders überlege! Ich vertraue Briggs.« Azraelle sieht mich einen kurzen Moment mit einem un- ergründlichen Blick an. Dann küsst sie mich auf die Lippen und ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, ist die 130 schönste Frau, die ich je gesehen habe, verschwunden und ich frage mich, ob ich geträumt habe. Nein, ich habe nicht geträumt, leider. Ich sitze noch im- mer wie benommen im Verhörzimmer, als Charleen Taylor plötzlich den Kopf hineinstreckt. »Wo ist denn Ihre Ver- dächtige, Cunningham?« Ich blicke stur geradeaus. »Ich … ich habe sie … laufen- lassen, Sir.« Meine Stimme hat kaum Klang. Sie wirkt ble- chern und schwach. »Sie … haben … was?!« »Ich habe sie laufenlassen.« Dieses Mal ist meine Stimme sicherer. »Sind Sie verrückt? Was haben Sie sich dabei gedacht, Cun- ningham? Sie lassen eine Mordverdächtige einfach so frei?« »Ich musste es tun, Sir«, erwidere ich. »Es war Briggs’ Wunsch, dass ich ihr helfe.« »Sie sind offensichtlich nicht mehr ganz bei Trost, Cun- ningham! Mir fehlen gerade die Worte. Geben Sie mir Ihre Dienstmarke und Ihre Waffe, Constable. Los! Ich suspen- diere Sie hiermit und garantiere Ihnen, das wird kein vor- übergehender Zustand sein, nach so einer Nummer!« Ich nehme es ihr nicht einmal übel. Mechanisch ziehe ich meine Waffe hervor, entlade sie und lege sie hin. Da- neben platziere ich meine Dienstmarke und stehe auf. Ich lasse sanft meinen Zeigefinger über die Marke streifen und schlucke leer. »Ich kann es nicht erklären, Inspector.



Ich musste es einfach tun. Es tut mir leid, Sie so sehr enttäu- schen zu müssen.« Taylor zeigt keine Regung. Ich verlasse das Verhörzim- mer und gehe hinunter auf die Straße. 131 Kapitel XIV Flucht ins Verderben Mir ist meine kleine, schäbige Wohnung immer peinlich gewesen. Darum habe ich nie jemanden mit zu mir nach Hause genommen. Ich habe bloß ein einziges winziges Zimmer und nicht einmal einen Balkon. In meiner Mini- wohnung fi ndet nicht mehr Platz als ein Bett, ein Esstisch, der auch zum Arbeiten dient und deshalb immer mit allem möglichen Krempel überladen ist, und eine kleine Koch- nische. Aber jetzt, wo es darum geht, mich von meinem Zu- hause zu verabschieden, werde ich sentimental. Ich kenne das von mir eigentlich nicht. Aber es ist ja auch nicht so wie damals, als ich aus dem Waisenhaus ausgezogen bin. Da habe ich nichts zurückgelassen, was mir wichtig gewesen wäre. Diesmal hingegen lasse ich buchstäblich mein gan- zes Leben zurück, das ich mir so hart erarbeitet habe. Der ganze Escort-Scheiß, das Studium, der Kampf um einen ordentlichen Praktikumsplatz, alles umsonst. Außer Schulden ist nun nichts mehr da. Bis auf einen Rucksack mit Klamotten und dem Allernötigsten habe ich den kläglichen Rest meiner Habe entweder vertickt oder entsorgt. Es ist nicht so, dass ich keine andere Wahl als den 133 133 Gang in die Obdachlosigkeit habe, aber ich will nicht, dass der Staat noch ein zweites Mal für mich sorgt. Er hat es

schon beim ersten Mal nicht besonders gut hinbekommen. Mein ganzes Leben war ein Kampf, und ich will einfach nicht mehr länger kämpfen. Ich drücke meinem Vermieter die Schlüssel in die Hand, bekomme von ihm 120 Pfund für meine Möbel und stehe zwei Minuten später auf der Straße. So schlimm der Abschied von meinem Zuhause auch war, das, was nun folgt, wird noch um einiges schlimmer. Ich bin bereits eine halbe Stunde zu spät dran, aber seit meiner Suspendierung hat Zeit für mich keine wirkliche Bedeutung mehr. Das bekommt auch Emily zu spüren, die immer überpünktlich ist und nun sicher schon ewig in mei- nem Lieblingspub auf mich wartet. Es ist nicht weit von meiner Wohnung bis zum »Elephant Pub«, darum gehe ich zu Fuß. Ich stoße die Tür auf und sauge ein letztes Mal die gemütliche Atmosphäre dieses Ortes in mich auf. Schwere, dunkle, alte Holztische, der omnipräsente Geruch nach Fish and Chips, das gedämpfte Licht, das durch die farbigen Fenster in den schummrigen, bis auf wenige Gäste leeren Raum fällt. Ich brauche mich nicht lange umzusehen, bis ich sie finde. Emily sitzt allein an einem Vierertisch am Fenster und schaut hinaus. Sie hat ein beinahe leeres Pint von mei- nem Lieblingsale vor sich, obwohl sie eher der Cider-Typ ist, und ich sehe ihr an, dass sie geweint hat. Es versetzt mir einen Stich ins Herz, meinen Engel so traurig zu sehen. »Miss?« Der Mann hinter der Theke holt mich in die Ge- genwart zurück.



Ich bestelle ein weiteres Pint für Emily und einen doppelten Whisky für mich. Dann gehe ich zu ihr. 134 Ich komme kaum dazu, die Gläser abzustellen, da schnellt sie schon von ihrem Platz hoch, greift nach meinem Kopf, zieht mich über den Tisch zu sich und küsst mich. Sie will ihre Zunge gar nicht mehr von meiner lösen, und so muss ich sie fast ein wenig zurückweisen. Wir setzen uns und einige Augenblicke schwebt eine blei- erne Stille über dem Tisch. »Warum hast du nicht geantwortet?«, durchbricht Emily schließlich das Schweigen. Es klingt nicht nach einem Vor- wurf. Ich kann förmlich spüren, wie sie unter meiner Zu- rückweisung leidet. Sie hat mir unzählige Nachrichten auf mein Mobiltelefon geschickt, solange ich es noch hatte, hat mich angefleht, mich bei ihr zu melden, mir von ihr helfen zu lassen. Sie hat auch mehr als einmal vor meiner Tür ge- standen, aber ich war nicht in der Lage, ihr aufzumachen. »Ich will dich schützen, Emily. Ich tu dir nicht gut. Ich will nicht, dass dir dasselbe widerfährt wie mir, mein En- gel.« »Aber was sagst du da, Flo? Es ist doch nichts verloren! Lass mich dir doch helfen! Du kannst zu mir ziehen. Ich kann problemlos für uns beide sorgen, bis du eine Arbeit gefunden hast. Was soll schon …« »Ich habe bereits eine Arbeit, Emily. Es ist Zeit, dass du erfährst, wer deine Flo wirklich ist. Ich bin eine Nutte, und das schon seit Jahren. Escort-Girl klingt bloß nobler, aber




in Wirklichkeit habe ich meine Studiengebühren durch Prostitution finanziert. Ich habe ein Suchtproblem. Oxy- codon. Ich hatte es die letzten Jahre über ziemlich im Griff, aber seit meiner Suspendierung ist es schlimmer geworden. Die gängigen Apotheken kennen mich inzwischen und die meisten nehmen mein Rezept schon gar nicht mehr an, 135 weil sie seine Echtheit anzweifeln. Wenn du bei mir bleibst, Emily, hast du keine Zukunft. Ich werde dir nur Unglück bringen.« »Aber das ist doch alles nicht wahr, Flo! Gut, vielleicht bist du ein Escort-Mädchen.« Emilys Augen füllen sich mit Tränen. Ihre Stimme bebt. »Daran ist doch nichts Schlim- mes! Und Sucht kann man therapieren. Du bist deswegen nicht verloren! Auch Taylor will dir helfen. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie hat schwer an deiner Suspendierung zu beißen. Du bist nicht allein, Flo. Wir alle wollen dir helfen!« Ich greife nach Emilys Hand. »Ich bin hergekommen, um Lebewohl zu sagen, Emily. Ich habe nur noch eine letzte Bitte an dich.« »Ja?« Emily sieht mich hoffnungsvoll an. »Briggs hat mich gebeten, Azraelle zu beschützen. Du weißt schon, meine Verdächtige. Zumindest habe ich es so verstanden. Das habe ich getan, soweit ich es konnte. Darum bitte ich dich, diese Aufgabe für mich zu über- nehmen. Bitte kümmere dich um Azraelle. Auch wenn ich nicht weiß, warum, so weiß ich doch, dass sie wichtig ist. Sie hat den Engel verdient, den ich nicht verdiene.« Emily kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und weint nun hemmungslos. Ich ertrage es nicht länger, ihr



wehzutun, trinke meinen Whisky auf ex und stehe auf. »Leb wohl, Emily.« Damit drehe ich mich um. »Flo?« Emilys Stimme lässt mich innehalten. Sie wirkt wieder stärker. Ich blicke nochmals zurück. »Du wirst immer mein Engel bleiben, Flo. Egal was ge- schieht.« Ich schenke ihr ein Lächeln und gehe. Alles, was ich von diesem Moment an tue, geschieht wie 136 von selbst. Ich steige in den Bus. Mein Ziel ist der Bahnhof King’s Cross. Nein, nicht das Gleis neundreiviertel, aber dennoch auch ein Tor zu einer anderen Welt, einer weit- aus weniger zauberhaften, aber mindestens ebenso gefähr- lichen. Ich kenne diese Ecke aus meinen Praktika bei der Sitte und der Drogenfahndung. Ersteres mochte ich nicht, weil mein Nebenjob hier besonders leicht zum Risiko wer- den konnte und Letzteres machte mir immer Angst, weil ich wusste, wie gefährdet ich bin, wenn es um Drogen geht. Ich habe mir stets Mühe gegeben, dem Zeug so gut wie möglich fernzubleiben und mich mit Oxycodon begnügt. Aber seit ich bei der Drogenfahndung war, weiß ich, wo ich was finden kann, und Oxycodon gibt mir – mal davon abgesehen, dass ich es kaum mehr bekomme – nicht mehr das, was ich brauche. Der schlaksige Kleindealer am King’s Cross erkennt mich tatsächlich wieder. Einmal war ich mit von der Partie, als er verhaftet wurde. Deshalb will er natürlich sofort abhauen, als er mich sieht. Ich schnappe ihn mir, zerre ihn in eine dunkle Ecke und flüstere ihm das wohl Letzte ins Ohr, was



er von mir erwartet hätte: »Ich bin hier, weil ich was brau- che, nicht um dich zu verhaften. Sag schon, was du mir für 120 Pfund geben kannst. Dann lass’ ich dich los.« Er macht nicht mal Anstalten, mich übers Ohr zu hauen, sondern bietet mir für den genannten Preis eine stattliche Menge Heroin. Ich lasse ihn los, er reicht mir das Päckchen und wir schlendern zurück an den Platz, wo er zuvor auf Kunden gewartet hat. »Bist du denn nicht mehr bei den Bullen?«, fragt er mich beiläufig, aber lauter als nötig, was mich irritiert. »Lange Geschichte und ich habe nicht vor, sie zu erzäh- 137 len.« Ich ziehe den Gürtel aus meiner Hose, setze mich auf den Boden, kremple meinen Ärmel hoch und versuche, mir den Arm abzubinden. Ich hantiere derart planlos mit Löffel, Zitronensaft und Feuerzeug, dass einer der anderen umherstehenden Typen auf mich aufmerksam wird und zu mir rüberkommt. Ich habe das Gefühl, er hat mich bereits vorher beobachtet. »Na, wen haben wir denn da? Brauchst du Hilfe, junge Schönheit? Ich bin übrigens Vlad.« Trotz der plumpen Anmache ist er mir nicht gänzlich unsympa- thisch. Er ist groß, stark und wirkt nicht, als wäre er der hinterletzte Vollpfosten. »Hi Vlad, ich bin Florence. Und ja, es wäre nett von dir, wenn du mir helfen würdest.« Vlad lächelt freundlich, greift sich Dope und Werkzeug und macht mir mit geübter Hand meine erste Spritze bereit. Ich weiß nicht, warum ich es tue, aber ich breite in den



nächsten Minuten mein ganzes Leben bereitwillig vor Vlad aus, obwohl das sicher das mit Abstand Dümmste ist, was ich in diesem Moment tun kann. Er hört mir geduldig zu. Dann zieht er den Gürtel um meinen Oberarm kräftig an, klopft ein paarmal auf meine Armbeuge und setzt die Nadel an. Ich muss meinen Blick abwenden, als die Kanüle in meine Vene eindringt. »Gute Reise«, höre ich Vlad säuseln. Dann lockert er den Gürtel und ich bin weg. 138 Kapitel XV Empfängnis Ich fühle mich sofort zu der jungen Polizistin mit den langen blonden Haaren und den großen braunen Augen hingezogen. Nicht körperlich, sondern weil ich eine Ver- bindung zwischen uns spüre. Wir stehen uns vor dem Sofa in der Bibliothek gegenüber und Whitney serviert uns Tee. Auf dem Salontischchen liegt noch immer mein positiver Schwangerschaft stest, den ich vor ein paar Tagen gemacht habe. Dass ich etwas derart Intimes so off en präsentiere, stört mich nicht. Wahrscheinlich, weil die Lady mich dafür gelobt hat. Sie hat mich die vergangenen Tage über richtig- gehend verhätschelt. Dann ist sie auf einmal gegangen. Sie müsse nun für längere Zeit verreisen und möglicherweise würde die Polizei mich irgendwann abholen kommen, hat sie gesagt. Vielleicht aber auch nicht, denn sie wüssten ja nicht, dass ich hier wohne. Falls sie kommen würden, solle ich keine Angst haben und einfach tun, was sie sagen. Mir werde nichts geschehen. Ich soll nur an das Kind in meinem Leib denken, das sei jetzt das einzig Wichtige. Sie werde


mich aus dem Gefängnis holen, sobald es ihr möglich ist. Dann hat sie mich auf die Stirn geküsst und ist gegangen. 139 139 Es hat danach nicht lange gedauert, bis sie da war: Detec- tive Constable Emily Michaelis. Whitney hat ihr die Tür geöffnet und sie direkt in die Bibliothek geführt, wo ich gerade Cello gespielt habe. Sie hat sich auf das Sofa gesetzt und mir geduldig zugehört, bis ich den Bogen aus der Hand gelegt habe. Dann bin ich aufgestanden und zu ihr herü- bergegangen. Ich warte mit meiner Frage, bis Whitney die Bibliothek verlassen hat. Warum ich mir so sicher bin, weiß ich nicht, aber ich ahne, woher unsere tiefe Verbundenheit kommt. »Du bist meine Schwester, nicht wahr?« Emily Michaelis nimmt mich in die Arme. »Ich habe dich all die Jahre so sehr vermisst, Azraelle.« Wir stehen einige Minuten eng umschlungen da und sa- gen beide kein Wort. Ich glaube, Emily weint. Als wir uns aus der Umarmung lösen, muss ich es wissen. »Hast du die ganze Zeit über gewusst, wo ich bin? Hast du gewusst, wie es mir geht?« Emily wischt sich die Tränen aus den Augen und schüttelt den Kopf. »Nein, das wusste ich nicht. Das durfte ich nicht wissen, weil es viel zu gefährlich gewesen wäre. Hätte mich einer der Dämonen zu fassen bekommen und aus mir her- ausgequetscht, was ich weiß, wäre alles umsonst gewesen.« »Was wäre umsonst gewesen?« Wir setzen uns aufs Sofa. Sie greift nach der Teetasse und nimmt einen Schluck.




»Wir sind Engel, Azraelle. Ich weiß, wie verrückt das klingt, wenn man es zum ersten Mal hört, aber es ist so. Unsere Aufgabe ist es, den Messias auf die Erde zu bringen. Wir sind aber leider nicht die Einzigen, welche die Zukunft beeinflussen wollen. Die Dämonen der Hölle arbeiten gleichzeitig mit Akribie daran, den Antichristen 140 in die Welt zu setzen und den Messias zu töten. Unsere El- tern wussten genau, dass unsere Mission schwierig werden würde. Um die Chance zu vergrößern, dass zumindest eine von uns Erfolg haben wird, war es wichtig, uns zu trennen.« Emilys Blick fällt auf den Teststreifen auf dem Tisch. »Der Vater meines Kindes ist Reverend Jordan Hale«, sage ich mit belegter Stimme. »Der Bruder meiner Herrin.« »Mephista?« »Genau.« Emily denkt nach. »Ist … mein Kind der Antichrist?« Tränen steigen mir in die Augen. »Oder der Messias. Möglicherweise ist es auch beides. Ich weiß es nicht, Azraelle. Mephista hat all die Jahre nicht er- kannt, wer oder was du wirklich bist. Sie hat in dir nur das Gefäß gesehen, in dem der Antichrist heranreifen soll, da sie selbst offenbar nicht das Glück hatte, Kinder bekommen zu können. Ich weiß nicht, was am Ende sein wird, aber ich weiß, dass wir dein Kind beschützen müssen, und darum bringe ich dich jetzt von hier weg.« »Ins Gefängnis?«, frage ich ängstlich, denn obwohl mich meine Herrin vorgewarnt hat, macht mir dieser Gedanke schreckliche Angst. Vor allem, da ich Lady Mephistas wah- res Ich langsam erkenne. »Nein.


An einen sicheren Ort, Azraelle.« Ich bin davon überzeugt, dass alles, was Emily mir er- zählt hat, wirklich die Wahrheit ist, und so folge ich ihr, ohne zu zögern, zur Tür. Zu meinem Erstaunen hat Whit- ney bereits eine Reisetasche für mich gepackt und wartet im Eingangsbereich auf uns. Ob sie das wohl von sich aus oder auf Geheiß der Lady getan hat? 141 Whitney hat beim Abschied tatsächlich Tränen in den Augen! Ich habe die Haushälterin seiner Lordschaft noch nie weinen sehen. Sie umarmt mich, küsst mich auf die Wange und flüstert: »Pass gut auf dich auf, meine kleine Azraelle. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Auf dem Hof steige ich in Emilys roten Mini Cooper und wir fahren los. »Schade, dass ich mein Cello nicht mitnehmen kann«, murmle ich und sehe, dass Emily wieder Tränen in den Augen hat. Aber dieses Mal wirkt sie nicht ergriffen, son- dern eher niedergeschlagen und traurig. »Wir finden ein Instrument für dich, versprochen«, flüs- tert sie und dreht den Zündschlüssel. »Warum weinst du, meine große Schwester?« Emily presst die Lippen zusammen. Dann erwidert sie: »Ich habe auch etwas verloren, das mir sehr wichtig ist, Azraelle. Jemanden, besser gesagt. Ich weiß nicht, ob ich sie je wiedersehen werde. Ich habe gerade so schreckliche Angst um sie.« »Wer ist sie denn?«, frage ich und lege meiner Schwester sanft die Hand auf die Schulter. »Ein Engel. Sie ist mein Engel.« Tränen laufen über ihr Gesicht, während wir den Ort verlassen, der über viele





Jahre mein Zuhause gewesen war. »Ein Engel wie wir?« »Leider nein, fürchte ich.« Emily weint auf der ganzen Fahrt immer wieder von neuem. Ich will sie nicht mit mei- nen Fragen quälen. Vielleicht haben wir Zeit zum Reden, wenn wir angekommen sind. Die Fahrt dauert fast sechs Stunden, aber ich genieße jede Minute davon, auch wenn – oder vielleicht, gerade weil – 142 wir in dieser Zeit kaum ein Wort wechseln. Mir genügt es völlig, mit meiner Schwester zusammen zu sein. Schließlich erreichen wir die Küste, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben das Meer sehe. Emily parkt ihren Wagen vor einem hübschen, weiß gestrichenen, alten Haus mit Veranda und einer Schaukel an Ketten. Ich steige aus und verliebe mich auf der Stelle in diesen Ort. »Das ist das Ferienhaus unserer Eltern«, flüstert Emily mir zu. »Wir sind häufig hier gewesen. Du leider nur we- nige Male. Darum kannst du dich wohl kaum daran er- innern.« Die Sonne ist vor einigen Minuten untergegangen und ich stelle mir vor, wie schön es hier erst im Sonnenschein sein muss. »Sind sie hier? Unsere Eltern?«, frage ich schüchtern. Meine Schwester zögert. »Sie sind gestorben, Azraelle. Im Kampf gegen die Hölle. Es tut mir so leid.« Ich versuche, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlu- cken, erkenne dann aber, dass ich das hier nicht mehr muss. Ich muss mich nicht mehr beherrschen. Stattdessen drehe ich mich zu meiner Schwester um, die mich zärtlich in den Arm nimmt. Einerseits bin ich gerade wahnsinnig traurig,

andererseits fällt in diesem Moment auch eine gewaltige Last von mir ab. Es ist vorbei! Ich bin jetzt zu Hause. Emily führt mich um das Haus herum und zeigt mir das Grab unserer Eltern. Bevor ich fragen kann, spüre ich plötz- lich, dass noch jemand hier ist. Ich drehe mich um und da steht Jordan Hale vor mir. Auch er umarmt mich und so stehen wir lange schweigend vor dem Grabstein, bis die Dunkelheit die Inschrift verschwinden lässt. 143 Emily kann leider nur bis zum folgenden Morgen bei uns bleiben, dann muss sie zurück nach London. Auch sie wirkt gelöster als tags zuvor, als sie morgens um sechs in ihren Wagen steigt. Ich glaube, sie vertraut Jordan Hale und sie glaubt, dass ich bei ihm in Sicherheit bin. Ich winke ihr lange nach, auch dann noch, als ihr Mini Cooper nur noch ein kleiner roter Käfer ist, der die Küste entlangkrabbelt. 144 Kapitel XVI Die Boten der Apokalypse Dass Vlad ein Zuhälter ist, kann ich aus zehn Meilen gegen den Wind riechen. Er hingegen sieht von Anfang an »hilf- lose Junkie-Nutte« auf meiner Stirn geschrieben stehen, ob- wohl das vorhin gerade mein erster Schuss gewesen ist, und so nimmt das Unheil bald darauf seinen Lauf. Am Anfang ist Vlad noch nett zu mir. Er nimmt mich mit zu sich nach Hause, wo noch diverse andere Mädchen ständig ein- und ausgehen. Einige sind in männlicher Begleitung, andere allein. Vlads Haus ist riesig und mir ist sofort klar, dass er

ein paar der Zimmer hier den Mädchen für die Stunden mit ihren Freiern zur Verfügung stellt. Das fi nde ich auf eine gewisse Weise sehr anständig von Vlad. Er sorgt für seine Mädchen und bietet ihnen ein sicheres Umfeld. Jene Mädchen, die allein hier auft auchen, machen auf mich dagegen einen weitaus weniger glücklichen Eindruck. Die meisten von ihnen sind mager und wirken kränklich. Sie erscheinen mit angstvollem Gesicht, drücken Vlad ihre Einnahmen in die Hand und verschwinden schnell wieder, mit Ausnahme derer, denen Vlad es nicht erlaubt. Die bringt er in ein Zimmer im obersten Stock, zu dem 145 145 ich keinen Zugang habe, und sagt ihnen, sie sollen da auf ihn warten. Eigentlich begreife ich von Anfang an, wie das Spiel läuft, und ich könnte jeder der süßen, kleinen Nut- ten zeigen, wohin ihre Reise führt. Doch ich tue es nicht und mache jeden Fehler, den sie begehen, auch selbst. Der Unterschied ist nur, ich tue es im Gegensatz zu ihnen im vollen Wissen. Meine Erfahrungen bei der Sitte und der Drogenfahndung haben gereicht, um zu verstehen, wie es läuft. Eine Junkie-Nutte ist eigentlich kein Vergnügen für einen Zuhälter. Ich bin aber gewissermaßen eine Ausnahme für Vlad, der wahrscheinlich nie und nimmer Vlad heisst. Er ist gebürtiger Engländer, wie er mir später im Bett erklärt, nachdem wir miteinander geschlafen haben. Seinen rich- tigen Namen nennt er niemandem. Vlad nennt er sich in Anlehnung an Vlad den Pfähler, weil er – wie er behaup-




tet – schon Tausende Mädchen mit seinem Riesenpfahl auf- gespießt hat, was ich beides für maßlos übertrieben halte. Er ist ein Großkotz, aber ich bleibe die kommenden Tage trotzdem bei ihm. Er versorgt mich mit sauberem Heroin und ich liege die ganze Zeit über eigentlich nur in seinem Bett rum, bis es ihm letztlich zu dumm wird und er mir zeigt, wo mein Platz ist. Nun stehe ich also hier bei den anderen Straßennutten, rauche fleißig Zigaretten und warte auf Kunden, die meine Heroinsucht finanzieren. Die Phase, in der ich Kunden in eines der Zimmer von Vlads Haus bringe, habe ich gleich übersprungen. Vor allem auch deshalb, weil Vlad diese Zimmer vorzugsweise nur den »sauberen« Mädchen zur Verfügung stellt, also jenen, die keine Drogen nehmen. 146 Vlad verabscheut Junkies und beschränkt den Kontakt mit ihnen auf ein absolutes Minimum, namentlich, wenn sie ihm sein Geld bringen, oder, wenn er sie – falls die Ein- nahmen zu gering sind – bestraft. Bei mir ist das allerdings anders. Es ist nicht so, dass ich nicht genau wie alle anderen Drogenprostituierten rund um King’s Cross auch gleich einen Großteil von dem, was ich einnehme, wegdrücken würde, was für einen Zuhälter definitiv kein gutes Geschäft ist. Aber ich bin eine Ex-Polizistin, und das findet Vlad geil. Es dauert auch nicht lange, bis er es mir offen ins Gesicht sagt: »Weißt du, Kleines, eine von euch Bullenmuschis in meiner Gewalt zu haben, ist mir ein Verlustgeschäft wert.


Und der Spaß, dich zu verprügeln, wenn du einmal nichts heimbringst, wird auch einiges wettmachen.« Anfangs schlägt mich Vlad kaum. Er hat keinen Grund, unzufrieden mit mir zu sein. Solange ich körperlich fit bin, stehen die Freier bei mir Schlange. Den innerlichen Verfall sieht man mir nicht an. Die Kasse klingelt und Vlad nickt anerkennend, wenn ich ihm das Geld abliefere, welches trotz meines steigenden Drogenkonsums jeden Abend üb- rig bleibt. Doch bald schon drücke ich so viel Heroin, dass mein Äußeres leidet. Ich vernachlässige meinen Körper, hänge nur noch auf der Straße rum und bin zumeist ent- weder völlig weggetreten oder aber auf Entzug. In beiden Zuständen kommt es mir nicht in den Sinn, zu duschen oder meine Klamotten zu waschen. Ich wüsste nicht ein- mal wo. Zu Vlad gehe ich nur, wenn ich ihm auch ganz sicher Geld bringen kann. Ohne kreuze ich nur ein einziges Mal auf. Danach mache ich einen Kurzbesuch in der Not- aufnahme, wo ich aber abhaue, sobald die Ärzte mir aus meiner Situation heraushelfen wollen. 147 Es wird von Tag zu Tag schlimmer. Das Geld wird immer knapper und zu allem Überfluss finden mich die meisten Stammfreier innerhalb kürzester Zeit bereits langweilig, weil ich nur apathisch unter ihnen liege, wenn sie zwischen meinen Schenkeln ihre Triebe befriedigen. Ich habe inzwi- schen auch schon mehrmals darüber nachgedacht, meinem Leben einfach ein Ende zu setzen. Aber irgendetwas hält mich davon ab. So bescheuert das auch klingen mag, bin



ich doch vollkommen davon überzeugt, noch eine Aufgabe erfüllen zu müssen. Ich weiß bloß nicht, welche es ist, und breit wie ich dauernd bin, kann ich darüber auch kaum nachdenken. In einem Moment besonders großer Hoffnungslosigkeit treffe ich sie spätabends. Es ist Herbst und bitterkalt in dieser Nacht. Kein Freier weit und breit. Ich geselle mich zu einer Gruppe anderer Obdachloser, die in einem alten Ölfass ein Feuer entfacht haben. Ich will nicht wissen, was sie verbrennen. Es riecht auf alle Fälle ungesund, aber das Feuer wärmt meine klammen Finger. »Na, schönes Kind, wer bist denn du?«, murmelt der Mann zu meiner Rechten und ich fürchte schon, er will mich anmachen. Trotzdem erwidere ich freundlich: »Ich bin Flo … und ja, ich war Polizistin, kann also gut sein, dass ich dich mal verhaftet habe. Und ja, jetzt bin ich eine Stricherin und eine Fixerin. Und wer seid ihr, Leute? Euch hab’ ich in der Gegend noch nie gesehen.« Der Mann dreht sich zu mir um und ich bin überrascht, wie gepflegt er, von seiner abgewetzten Kleidung abgese- hen, aussieht. Er streckt mir seine Hand hin. »Warren.« Ich drücke seine Hand und fühle plötzlich einen Energieschub. 148 »Acht Monate Afghanistan. Seither kann ich nicht mehr schlafen und werde fast wahnsinnig, wenn ich drinnen bin. Darum leb’ ich jetzt auf der Straße. Die da drüben ist Not- tingham.« Warren zeigt auf eine ausgezehrte junge Drogen- süchtige, der es noch einige Klassen schlechter geht als mir. »Sie ist überzeugte Veganerin.

Wenn du sie zum Kotzen bringen willst, musst du ihr eine Scheibe Schinken vor die Nase halten. Darum Notting-Ham! Saukomisch, nicht?« Der Witz ist zwar platt, aber ich muss trotzdem lachen. »Und das Mädchen da drüben?« »Die nennen wir Eukalypse, weil sie ihren chronischen Husten mit australischen Eukalyptusbonbons kuriert. Au- ßerdem kaschiert das ihre Alkoholfahne. Glaubt sie zumin- dest. Tja, Flo, willkommen bei den Boten der Apokalypse. So nennen wir unsere kleine Gemeinschaft.« Ich bin ausnahmsweise klar im Kopf und denke kurz über seine Worte nach. Warren ist der Krieg, Nottingham der Hunger, Eukalypse die Krankheit. »Und wo ist der vierte?« »Na, wo soll Tod wohl schon sein? Auf dem Friedhof na- türlich. Wurde grad’ gestern verscharrt. Goldener Schuss.« Ich bin schockiert über die Beiläufigkeit, mit der Warren das sagt. Die vier scheinen so etwas wie eine Gemeinschaft gewesen zu sein, und doch trifft es die Überlebenden kaum, wenn einer von ihnen auf einmal fehlt. Das will ich nicht. So will ich nicht enden. Ich verbringe die Nacht am Feuer der Boten und bleibe die kommenden Tage in ihrer Gesellschaft fast clean. Ich nehme nur gerade so viel, wie nötig ist, um nicht auf Turkey zu kommen. Nun denke ich wieder vermehrt an Emily und frage mich, wie es ihr wohl geht, seit ich mit ihr Schluss 149 gemacht habe. Ich habe nicht gewollt, dass sie in all die Scheiße reingezogen wird, in der ich bis zum Hals stecke. Aber jetzt fühle ich, dass ich sie brauche.

Sie ist nicht zu Hause. Natürlich nicht. Warum sollte sie nachmittags um drei auch zu Hause sein. Doch ich habe Zeit und mache es mir im Hausflur gemütlich, bis ich von einem anderen Mieter – einem versnobten Manager oder so – aus dem Haus geschmissen werde. So warte ich noch eine Stunde draußen. Es ist die Mühe wert. Ich falle Emily sofort um den Hals, als sie da ist, und sie lässt mich tat- sächlich in ihre Wohnung. Bevor wir irgendetwas anderes tun, scheucht sie mich ins Bad. Ich wasche mich so gründ- lich wie seit Jahren nicht mehr. Als ich aus der dampfen- den Kabine steige und in den Spiegel blicke, bin ich positiv überrascht. Emily hat mir ein paar von ihren Kleidern und eine Zahnbürste gebracht. Ich verlasse das Bad, lasse die Kla- motten aber dort liegen. Wenn ich mich im Spiegel be- trachte, sehe ich beinahe aus wie früher. Blöd nur, dass sich der Turkey bemerkbar macht, und ich werde nervös, als ich erfahre, dass Emily meine alten Klamotten kurzerhand in die Tonne geschmissen hat. »Ganz ruhig, Flo. Dein Spritzbesteck ist noch da. Ich weiß, dass das nichts bringen würde.« Sie deutet hinüber zum Esstisch, mit welchem ich sehr schöne Erinnerungen verbinde. Ich fühle mich fast ein wenig, als würde ich ein Heiligtum entweihen, als ich dort Platz nehme und mir einen Schuss setze. Einen ganz kleinen nur. Ich will Emily das volle Bild des Entsetzens ersparen. Eine Viertelstunde


später – die brauche ich nach einem Schuss, um die Sinne 150 runter- und wieder hochzufahren – reden wir das erste Mal seit Wochen wieder. Ich erzähle ihr, was ich inzwischen erlebt habe. »Warum um Gottes Willen bleibst du denn bei ihm?«, fragt sie mich, als ich ihr von Vlad erzähle. Und ich beant- worte es ihr, obwohl sie es ja eigentlich schon weiß. »Na ja, er hat halt sein Revier dort und wär’s nicht er, dann wäre es ein anderer. Groß woanders kann ich nicht hin und solange ich tue, was er sagt, schützt er mich auch vor den anderen Zuhältern. Außerdem bin ich eine Tro- phäe für ihn. Eine besiegte Polizistin. Das genießt er und darum bin ich bei ihm vergleichsweise sicher.« Emily schüttelt den Kopf. Ich würde jetzt wahnsinnig gerne mit dir schlafen, Emily. Ich meine, das bloß gedacht zu haben, doch Emily beugt sich vor und küsst mich. Das Handtuch um meinen Kör- per fällt und Minuten später liegen wir nackt und eng um- schlungen in Emilys Himmelbett. Es ist fast wie früher. Am nächsten Morgen müssen wir beide zeitig los. Emily aufs Revier, ich auf den Strich. Emily will mir Geld ge- ben, doch ich lehne ab. Ich will nicht, dass sie meine Sucht oder – schlimmer noch – Vlads krumme Geschäfte finan- ziert. Ich werde heute Abend auch nicht zu ihr zurück- kehren. Es dauert gut zwei Wochen, bis wir uns wiedersehen. Dum- merweise habe ich ihr gesagt, wo ich mich rumtreibe, und




so erscheint sie plötzlich abends um halb zehn am Drogen- strich von King’s Cross. Sie kann nicht lange bleiben, weil sie nach Polizei aussieht und alle Dealer, Nutten und Zu- 151 hälter sofort nervös macht. Sie drückt mir zum Abschied ein billiges Mobiltelefon in die Hand. »Der Akku ist leider leer. Ich hatte keine Zeit, ihn aufzuladen. Versprich mir, dass du dich meldest, ja?« Ich lasse ihr die Hoffnung und nicke. Wir küssen uns und dann ist sie weg. Als Emily gegangen ist und ich das Mobiltelefon einste- cke, steht Warren neben mir. »Sie ist ein Engel, Flo.« »Ja, ich weiß. Schließlich ist sie mein Engel.« »Nein, ich meine, sie ist wirklich ein Engel. Und sie schwebt in größter Gefahr!« Warrens Blick ist vollkommen klar. Ich weiß, dass nicht der Alkohol aus ihm spricht. Mit ruhiger Hand zieht er ein Messer aus seiner zerschlissenen Jacke und reicht es mir mit dem Griff voran. »Vlad hat euch gesehen, Flo. Er ist ein Handlanger der Hölle. Er ist ein Dämon, der den Auftrag hat, den Messias zu finden und zu töten und ebenso alle, die ihm dabei in die Quere kommen könnten. Du musst Emily vor ihm be- schützen.« Ich starre ihn ungläubig an. Doch ich weiß instinktiv, dass er recht hat. Ich greife nach dem Messer, drehe mich um und gehe. An diesem Abend stehe ich mir an der Straße fast die Füße platt. Mein Zigarettenpäckchen enthält nur noch zwei malträtierte Glimmstängel, die ich mir so lange wie mög- lich aufspare.


Ich schwitze und zittere zugleich wie Espen- laub, mich juckt es überall und meine Glieder krampfen bereits, so stark ist der Turkey schon, als endlich ein Wagen hält. Ich steige ein. Es ist keine große Sache mehr für mich. Bloß ein weiterer Blowjob und als ich knappe zwanzig Mi- 152 nuten später wieder aus dem Wagen steige, kann ich mir endlich den nächsten Schuss leisten. Ich jage mir das Zeug in einer dunklen Seitengasse in eine Vene am Fuß. Danach bleibe ich eine gute Viertelstunde einfach im Dauerregen liegen, bis ich wieder ich selbst bin, oder zumindest das, was von mir übrig ist. Ich weiß, was ich zu tun habe. Vlad wird mich verprügeln oder vergewaltigen, oder auch bei- des, denn ich war bereits gestern nicht bei ihm und auch heute komme ich mit leeren Händen. Solche Tage genießt er ganz besonders, denn dann kommt er mich holen und nimmt sich das Letzte, was er noch von mir kriegen kann. Ich bin erstaunlich gelassen, als er auf mich zukommt. »Wie viel hast du?« »Nichts. War kein guter Tag heute.« Ich sehe zu ihm auf und blase ihm den Zigarettenrauch direkt ins Gesicht. Gut nur, dass ich gerade dermaßen high bin, dass ich überhaupt keine Angst habe. Vlad zögert keine Sekunde. Die Ohrfeige, die er mir verpasst, haut mich fast um. Dann greift er um meine Taille, klemmt mich unter den Arm und obwohl ich mich wehre wie der Teufel, schleppt er mich in die nächste Toilette.




Dort drängt er mich in eine Kabine und reißt meine Bluse auf. Er ist wie ein Raubtier, das sich auf seine Beute stürzt. Ich greife nach hinten in den Bund meiner Hose, ziehe die Klinge hervor und steche zu. Es geht alles ganz leicht. Vlad keucht, sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an und greift nach der Klinge, die in seinem Herzen steckt. Keine gute Idee. Sobald die draußen ist, bricht er vor mir zusammen, röchelt ein paarmal und stirbt. Ich setze mich auf den Klosettring und heule los. Nicht um Vlad. Es ist die Erleichterung darüber, dass er mir 153 nichts mehr antun kann, und die Angst davor, was mir nun bevorsteht. Ich verlasse die Toilettenkabine, gehe zum Spiegel und suche nach einer Steckdose. Es dauert einige Minuten, bis der Akku so weit geladen ist, dass ich Emily anrufen kann. Ich trete nervös von einem Fuß auf den an- deren. Es klingelt keine drei Mal, bis sie rangeht. »Florence? Bist du es? Wo bist du? Geht es dir gut? Ist etwas passiert?« Erst jetzt merke ich, wie ich am ganzen Körper zittere und noch immer heule. »Emy … Emily … Ich habe etwas Furchtbares getan! Es … Es musste sein. Ich musste dich doch beschützen! Bitte … bitte komm her!« Nachdem ich Emily meinen Standort mitgeteilt und auf- gelegt habe, breche ich zusammen. Ich komme erst wieder zu mir, als sie da ist. Mein Engel … Ich brauche nicht viel zu erklären. Emy würdigt Vlads

Leiche kaum eines Blickes, sie überzeugt sich nur kurz davon, dass er tatsächlich tot ist. Sobald sie die Toilette notdürftig mit einem »Crime-Scene«-Band abgesperrt hat, führt sie mich weg von diesem schrecklichen Ort und kümmert sich um mich. Wir setzen uns auf die regenge- schützte Bank einer Bushaltestelle, wo Emily mich in die Arme nimmt. Ich weiß nicht, wie lange ich mich an sie schmiege und meinen Tränen einfach freien Lauf lasse. Ir- gendwann blicke ich auf. »Ich muss wohl eine schreckliche Zumutung für dich sein, Emy. Ich weiß nicht, wann ich meine letzte Dusche hatte, meine Kleider, die du mir ge- geben hast, habe ich seit damals nicht gewaschen und alles stinkt nach Zigarettenrauch und Schweiß. Du musst mich nicht berühren, wenn du dich vor mir ekelst.« Emily lächelt mich an, greift mit ihrer rechten Hand an meinen Nacken und zieht mich zu sich. Sie schließt ihre 154 Augen und flüstert: »Ich liebe dich, Flo. Ich liebe dich so sehr.« Unsere Lippen berühren sich. Wir küssen uns lange und innig. Ich möchte mehr, doch ich weiß, dass das nicht gehen wird. Unsere Lippen lösen sich voneinander und wir blicken uns noch einige Sekunden in die Augen. Ich sehe die Sehnsucht in Emilys Blick. Die Sehnsucht nach dem kurzen Glück, das wir zusammen hatten, und das nie wie- der zurückkehren wird. »Ich muss dich jetzt leider festnehmen, Florence.« Emily sagt diese Worte so ruhig und liebevoll, dass ich lediglich die Lippen zusammenkneife und nicke. Sie steht auf und




zieht ihre Handschellen hervor. Ich drehe mich zur Seite, um es ihr leichter zu machen, bleibe aber auf der Bank sit- zen. Behutsam greift Emily nach meinen Handgelenken und fesselt mir die Hände auf den Rücken. Das letzte Mal, als wir sowas gemacht haben, hatten wir bedeutend mehr Spaß dabei, denke ich bitter. Ich drehe mich in eine einiger- maßen bequeme Position und lehne mich an die Rückwand des Wartehäuschens. Von diesem Moment an ist Emily ganz professionell. Sie zückt ihr Mobiltelefon und ruft In- spector Taylor an. Danach hält sie neugierige Passanten von mir und vom Tatort fern, bis die Verstärkung eintrifft. Dazwischen setzt sie sich noch einmal zu mir. Ich bitte sie, mir eine Zigarette anzuzünden. Emily zieht das zerknitterte Päckchen hervor und greift hinein. »Es ist die letzte.« »Irgendwie passend«, erwidere ich. Emily steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen, zün- det sie an und hustet. Sie hat noch nie in ihrem Leben ge- raucht. Dann steckt sie mir die Fluppe in den Mund. Es reicht gerade, um fertig zu rauchen, da trifft Charleen 155 Taylor ein. Als sie auf mich zukommt, um mich abführen zu lassen, sagt sie kein Wort. Sie schüttelt bloß mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung den Kopf. Die beiden Beamten, die mich mit dem Streifenwagen ins Untersuchungsgefängnis bringen, kenne ich nicht. Des- halb ist die Stille im Wagen erträglich. Das, was danach folgt, ist es weniger. Im Gefängnis angekommen, muss ich mich für die Leibesvisitation ausziehen. Die Beamtin, die


diese vornimmt, kenne ich flüchtig aus dem Studium. Sie lässt sich nichts anmerken, grüßt mich nicht, sondern gibt mir nur ihre Anweisungen, die ich brav befolge. Ich muss mich unter Aufsicht duschen. Anschließend erhalte ich ei- nen grauen Gefängnisoverall. Unterwäsche bekomme ich keine. Die Beamtin bringt mich in eine Einzelzelle und schließt mich ein. Ich lasse mich auf das Bett mit der dün- nen Matratze fallen und bleibe einfach sitzen. Keine Ah- nung, wie lange ich hier bin, bis plötzlich die Tür aufgeht und Detective Inspector Taylor eintritt. Ich stehe auf und sie stellt mir einige Fragen, die ich einsilbig und schuldbe- wusst beantworte. Als sie sich zum Gehen wendet, spreche ich sie nochmals an: »Charleen?« »Inspector Taylor, bitte.« »Ich weiß, Sie müssen das nicht tun, aber würden Sie bitte mit dem Arzt sprechen und ihn bitten, dass er mir etwas verschreibt? Ich bin suchtkrank, wie Sie wahrscheinlich wissen. Ich weiß, ich verdiene Ihre Hilfe nicht, aber ich bitte Sie trotzdem darum.« Taylor sieht mich mit verächtlichem Blick an und geht. Doch am kommenden Morgen, als mir das Frühstück durch eine Klappe in der Tür in meine Zelle gereicht wird, 156 steht neben dem Wasserglas tatsächlich ein kleiner Becher mit einer Flüssigkeit, die mir die nächsten Stunden erträg- licher macht. Und nicht nur das. Die Beamtin, die das Ta- blett später abholt, reicht mir eine kleine Papiertüte mit weißer Unterwäsche. Auf dem Papier ist ein kleines Herz gezeichnet. Ich bin sicher, es ist von Emily. Ich bin nicht allein. 157

Kapitel XVII Trio fi nal Mephista Dowland-Hale! Irgendwie habe ich gewusst, dass die Ankündigung, jemand habe meine Kaution bezahlt, nichts Gutes verheißt. Ich hatte gehofft , es wäre Emily, doch selbst für sie war dieser Betrag wohl nicht bezahlbar gewe- sen. Ich weiß im ersten Moment nicht, was ich tun soll, als ich Lady Mephista im Eingangsbereich des Untersuchungs- gefängnisses erblicke. Soll ich die Beamtin darauf aufmerksam machen, dass die Frau, die mich abholt, vielleicht nicht so vertrauens- würdig ist, wie sie wirken mag? Nein, ich kann es nicht. Ich muss hier raus, ich brauche unbedingt meinen Stoff ! Ich bin übelst auf Turkey, weil das mit dem Methadon leider nur eine einmalige Sache war. Charleen Taylor konnte wohl einfach meinen Anblick nicht ertragen, darum hatte sie es mir bringen lassen. Mit zittrigen Knien und gesenktem Kopf folge ich Me- phista aus dem Untersuchungsgefängnis. Ich weiß nicht, was sie mit mir vorhat, aber es ist mir gegenwärtig auch egal. Mephista öff net die Beifahrertür ihres Jaguars und lässt mich einsteigen. Sie setzt sich ans Steuer, greift in ihre 159 159 Handtasche und reicht mir ohne ein weiteres Wort ein Ab- bindeband und eine Spritze. Ich frage nicht, was drin ist. Als ich vergeblich versuche, meinen Arm abzubinden, hilft Me- phista mir dabei. doch die Kanüle muss ich selbst ansetzen. »Ich kann mir das nicht ansehen«, sagt sie mit bleichem Gesicht und schaut tatsächlich weg. Ich sehe sie einige Augenblicke irritiert an, grinse, setze dann jedoch rasch die Nadel an.

Gott sei Dank! Ich finde sofort eine Vene, ziehe auf und tatsächlich, der Inhalt der Pumpe wird rot. Ich stimme innerlich ein Halleluja an, als ich sehe, wie der Kolben den Inhalt der Spritze in meine Vene schiebt. Kaum ist alles drin, klappe ich weg. Ich komme in einem rosafarbenen Bett wieder zu mir. Alles im Zimmer ist so süß, dass mir fast schlecht wird. Mephista sitzt in einem Sessel neben dem Bett und liest in einem Buch. Sie bemerkt meine Bewegung und schaut auf. »Oh, du bist ja wach. Sehr gut. Bist du hungrig?« Ich fühle mich leicht benebelt, aber ansonsten gut wie schon lange nicht mehr. Was auch immer das für Stoff war, den sie mir gegeben hat, er kommt richtig geil rein! Ich nicke müde und schließe meine Augen. »Na dann mal raus mit dir!« Mephista schlägt die Decke zurück und zerrt mich hoch. Stoned, wie ich noch immer bin, muss sie mich stützen. Wir verlassen das Zimmer und Mephista führt mich die Treppe hinunter durch die beacht- liche Bibliothek zum Esszimmer. In einer Ecke der Biblio- thek steht noch immer das Cello. An dem bleibt mein Blick eine Zeitlang haften. »Das hat Azraelle gehört. Ich denke, du kennst Azraelle, nicht wahr, Florence?« 160 »Mhm …« Ich nicke. »Du hast übrigens in ihrem Bett geschlafen.« »Hm? In ihrem Bettchen geschlafen?«, murmle ich. »Bin ich denn hier bei den sieben Zwergen, oder was? Werd’ ich nun auch noch von ihrem Tellerchen essen?« Ich lache

dämlich über meinen eigenen Witz, aber Mephista kichert tatsächlich mit. Sie führt mich an eine lange Tafel. »Möchtest du, dass ich oben liege und du unten? Ich meine natürlich sitzen, nicht liegen. Sorry, Macht der Ge- wohnheit. Ich bin eine Straßennutte, musst du wissen. Aber das weißt du ja bereits, nicht wahr?« Und schon gröle ich wieder los. »Mann, bin ich vielleicht breit, Süße. Du könn- test im Augenblick mit mir machen, was du willst. Was war denn das für geiles Zeug in der Tülle, die du mir besorgt hast? Wo gibt’s diesen Stoff? Ich will nur noch das.« Mephista sieht mich siegessicher an. »Ich sorge dafür, dass du mehr davon bekommst, wenn du brav bist, Florence.« »Oh, wenn das so ist, dann bin ich von nun an das bravste Mädchen auf der ganzen Welt, oh Göttin des Lichts!«, lalle ich kichernd vor mich hin. Mann, was labere ich da für einen Stuss zusammen? Die Lady bringt mich zu meinem Platz an der Seite der Tafel und setzt sich neben mich ans Kopfende des Tisches. Die Haushälterin trägt das Essen auf und ich lange herz- haft zu. »Gott, ich habe schon lange nicht mehr so gut gegessen. Hab’s in letzter Zeit auch kaum mehr behalten können, weil es mir immer so mies ging.« Ich bekomme gar nicht mit, wie der Wein in mein Glas kommt. Aber ich merke zumindest, wie ich ihn trinke, und das ist im Grunde alles, was zählt. 161 Auf einmal, ich fühle mich inzwischen schon ziemlich



satt gefressen, werde ich schlagartig klar im Kopf. »Wirst du mich töten, Mephista?«, frage ich und die Lady ver- schluckt sich beinahe am Wein. »Wie bitte? Natürlich nicht, du dummes Kind! Was hätte denn das bitte schön für einen Sinn, dich für teures Geld aus dem Gefängnis zu holen, wenn ich dich danach gleich umlegen wollte? Natürlich war ich alles andere als begeis- tert davon, dass du Vlad abgestochen hast. Immerhin war er ein sehr loyaler … hm … na ja … Mitarbeiter, wenn man so will. Aber trotzdem denke ich, du nimmst dich zu wich- tig, Florence. Es geht hier nicht um dich. Dein Tod würde mir nichts bringen. Gegenwärtig jedenfalls.« Mir wird leicht schwindlig. Nein, so richtig klar im Kopf bin ich doch nicht. Oder schon wieder nicht mehr. Was wollte Mephista mir gerade mitteilen? Will sie mich nun etwa doch umlegen? Oder vielleicht eher flachlegen? Ich werde müde. Zu viel Wein auf zu viel Heroin, nehme ich an … »Komm, Florence. Ich glaube, ein kleiner Mittagsschlaf könnte dir guttun.« Ich merke, wie Mephista mich gemeinsam mit ihrer Haushälterin wieder hoch in Azraelles Bett bringt, wie sie mich hinlegen, ausziehen und zudecken. Dann fällt die Tür ins Schloss und ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Das nächste Mal ist das Erwachen weniger angenehm. Ich spüre die Entzugserscheinungen. Es juckt mich über- all, mein Mund ist trocken und ich bin ganz hibbelig. Ich schwinge mich aus dem Bett und falle der Länge nach hin.



Wow, ich bin ja völlig nackt! Was haben die beiden Hexen 162 wohl mit mir gemacht? Kleider liegen keine herum. Ich stehe auf und wanke zur Tür, doch die ist abgeschlossen. Scheiße, was soll denn das? Ich blicke zum Fenster. Das ist vergittert. Komisches Kinderzimmer, das Azraelle hier hatte. Trotzdem denke ich nicht weiter nach und gehe statt- dessen ins Bad. Ich sehe in den Spiegel. Geil, Pupillen so groß wie Untertassen! Das Zittern setzt bereits ein und mir ist kalt. Ich gehe zurück zur Tür und klopfe dagegen. Keine Reaktion. Ich rufe nach Mephista. Wieder nichts. Ich friere mittlerweile, gehe zurück ins Bad, lasse heißes Wasser ein- laufen und versuche, mich in der Wanne zu entspannen. Es gelingt nur bedingt. Zwischenzeitlich döse ich wieder ein wenig weg. Der Turkey wird stärker und stärker. Da geht plötzlich die Tür auf und Mephista kommt herein. Sie hat eine metallene Nierenschale dabei, in welcher Spritze und Abbindeband liegen. Rasch steige ich aus der Wanne, trockne mich ab und folge Mephista wie ein braves Hünd- chen zum Bett. »Wir müssen reden, Florence. Setz dich.« Ich lasse mich, noch immer vollkommen nackt, in den Sessel sinken. Mir ist egal, wie viel Mephista von mir sieht. Meinetwegen kann sie mich auch mit einem Strap-on durchnudeln, wenn sie das antörnt. Hauptsache, sie gibt mir so bald wie möglich das verdammte Dope! »Gib mir die Spritze, Mephista, bitte! Danach können wir reden.« »Nein, erst reden, dann zudröhnen!« Ich reagiere ziemlich genervt. Aber ich bin von ihr ebenso



abhängig wie vom Heroin. Deshalb fordere ich es nicht he- raus. »Na gut. Worüber willst du reden? Wenn du mich als Sexsklavin haben willst, nimm dir, was du willst. Darüber müssen wir nicht erst reden.« 163 »Nein, Florence«, erwidert Mephista ruhig. »Es geht um etwas ganz anderes. Es geht um deine Freundin Emily.« Ich fühle einen Stich in meinem Herzen. »Emily? Was ist mit ihr? Ist ihr etwas passiert? Geht es ihr gut?« Ich ziehe die Beine hoch und krümme mich zusammen. Die Krämpfe setzen ein, doch das ist gerade völlig unwichtig. »Nein, es ist alles gut mit ihr.« Ich atme erleichtert aus. »Das heißt, ich nehme es zumindest an. Ich weiß nicht, wo sie sich aufhält. Darum brauche ich deine Hilfe. Ich könnte mir vorstellen, dass sie in Gefahr ist. Sie ist ein En- gel, nicht wahr, Florence?« Ich sehe Mephista mit weit aufgerissenen Augen an. Wo- her weiß sie das? Was soll ich darauf antworten? Ich kann nicht klar denken und nicke verzweifelt. Jetzt gib mir end- lich das Scheißheroin, Herrgott nochmal! »Kannst du mir ihre Kontaktdaten geben? Ich muss sie unbedingt erreichen, um sie zu warnen.« Sie reicht mir Papier und Bleistift und ich gehorche. Ich schreibe Emilys Privatdresse auf, ihre Handynummer, Personalnummer, E-Mail-Adresse und einfach alles, was ich an Daten über sie weiß. »Braves Mädchen.« Dann endlich bekomme ich meinen Schuss. Ich beiße auf den Kanülenschutz und ziehe die Na- del heraus. Mit zittriger Hand führe ich die Nadel an die Vene auf meinem Fußrist.

Ich drücke den Kolben durch und das Letzte, was ich mitbekomme, ist, wie Mephista zufrieden lächelnd das Zimmer verlässt, sich im Türrah- men nochmals zu mir umdreht und mir zuflüstert: »Weißt du, Florence, ich glaube, das mit dem Engel ist nicht die ganze Wahrheit. Ich glaube, Emily ist mehr als das. Sie ist 164 der Messias oder sie ist dazu bestimmt, ihn zur Welt zu bringen.« An den kommenden Tagen wiederholt sich die schräge Szene des ersten Tages. Ich esse mit Mephista, schlafe, komme auf Turkey, warte auf mein Heroin, dröhne mich zu und alles beginnt von vorne. Mir ist alles egal geworden. Von mir aus kann das bis an mein Lebensende so weiter- gehen. Ich hadere nicht mehr mit meinem Schicksal. Bloß meine Angst um Emily hält mich noch auf Trab. Immer wieder erkundige ich mich bei Mephista nach ihr. Doch die sagt lange nichts dazu. Eines Tages jedoch, ich bin wieder auf Entzug, wartet Mephista länger als üblich damit, mir die Spritze zu reichen. »Ich habe mit Emily telefoniert, Flo- rence. Wir werden uns heute mit ihr treffen.« Es gelingt mir tatsächlich, meine Sucht zu kontrollieren und mir das Heroin nicht sofort in die Vene zu jagen. Ich versuche, mehr herauszufinden, doch Mephista bleibt vage. »Nimm jetzt dein Zeug, damit du rechtzeitig wieder be- reit bist.« Ich lasse mich nicht zweimal bitten. Emily! Ich werde endlich Emily wiedersehen! Ich bekomme nur etwa drei Viertel des Spritzeninhalts in meine Vene, bevor ich glaube, einen Herzinfarkt zu erleiden.



Meine Brust fühlt sich an, als würde sie bersten. Dann falle ich vom Sessel. Ich bleibe halb wach, fühle mich aber wie gelähmt und habe die schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens. Wie viel Zeit vergeht, bis Mephista zurückkehrt, kann ich nicht sagen. Zusammen mit der Haushälterin zieht sie mich an, als wäre ich eine übergroße Puppe. Dann tragen sie mich die Treppe hinunter in Mephistas Jaguar. Es ist be- 165 reits Nacht und es schneit leicht, als wir auf der obersten, nicht überdeckten Etage eines alten, leeren Parkhauses an- kommen. Das Parking, welches fünf Etagen aus dem Boden ragt, ist offenbar stillgelegt und steht kurz vor dem Ab- riss. Mephista parkt ihren Wagen mitten auf dem obersten Deck, steigt aus und hievt mich aus dem Auto wie eine Sardine aus der Büchse. Ich kann mich noch immer nicht bewegen. Bloß meine Finger kribbeln wieder ein wenig. Was hat sie nur vor? Mephista legt mich einige Schritte vom Wagen entfernt auf den eiskalten Boden, zündet sich eine Zigarette an und zieht daran. Dann steckt sie mir den Glimmstängel in den Mund. Mit Mühe gelingt es mir, ein paar Züge davon zu nehmen. In dem Moment sehe ich sie: Emily! Sie ist tatsäch- lich hier. Sie kommt auf mich zugerannt und stürzt neben mir zu Boden. Mephista hingegen ist nicht mehr zu sehen. Ich habe keine Ahnung, wohin sie verschwunden ist. »Flo! Oh mein Gott, Flo! Was ist denn mit dir? Wer war das? Wer hat dir das angetan?«



Ich verstehe auf einmal, was vor sich geht. Doch obwohl ich klarer im Kopf werde, kann ich Emily nicht warnen. Ich kann nicht sprechen. Ich kann rein gar nichts gegen das tun, was gleich geschehen wird. Es ist alles verloren. In dem Moment, in dem Emily meine Wange berührt, steht Mephista bereits hinter ihr. Meine Machtlosigkeit ist un- erträglich für mich, wogegen Mephista sie sichtlich genießt. Ihr diabolisches Grinsen lässt meine Angst um Emily ins Unermessliche wachsen. Ich verfluche meinen gelähmten Körper und mobilisiere verzweifelt meine letzten Kräfte. Aber mehr als ein Zittern und einen einzelnen unverständ- lichen Laut kriege ich nicht zustande. 166 Trotzdem begreift Emily, was mit mir los ist, und sie ahnt wohl auch die Gefahr, in der sie schwebt. Jedenfalls greift sie nach ihrer Waffe, doch es ist zu spät: Mephista fasst Emily mit ihrer linken Hand ans Kinn, reißt ihren Kopf hoch und schneidet ihr mit einem großen Fleischmesser die Kehle durch. Emilys wunderschöne, dunkle Augen sind weit aufgerissen. Sie will etwas sagen, doch das viele Blut, welches zugleich aus ihrem Mund und aus der klaffenden Wunde an ihrem Hals strömt, ertränkt jeden Laut. Mein Engel fällt vornüber und bleibt regungslos auf der Seite lie- gen. Sofort bildet sich eine dunkle Lache, die immer größer wird, und ich muss tatenlos mit ansehen, wie das Lebens- licht in ihren Augen erlischt. Das Bild wird undeutlich, weshalb ich hoffe, nun ebenfalls zu sterben. Doch es ist leider nicht der Tod, der meine Sicht trübt. Nein, es sind





nur die Tränen. Ich kann wieder weinen. Immerhin das. Ich fühle, wie ich langsam ein wenig Kontrolle über meinen Körper zurückerhalte. Mephista lässt das Messer fallen, dreht sich um und geht, ohne sich nochmals umzusehen, zu ihrem Wagen. Und da geschieht es. Ich nehme all meine letzten Kräfte zusammen. Langsam, schwerfällig, zitternd greife ich nach dem Messer. Ich erhebe mich auf die Knie, stehe auf, mache einen Schritt auf die Mörderin zu, noch einen und noch einen. Ich falle beinahe hin, weil ich die Kraft zu diesem Akt schon lange nicht mehr habe. Aber ich habe noch den Willen! Ich laufe schneller, noch schneller, erreiche Mephista und werfe sie zu Boden. Sie ist völlig überrascht, dreht sich auf den Rü- cken, will vor mir zu fliehen, weicht zurück, doch nicht weit genug. Ich springe auf sie und ramme ihr mit aller Kraft und Verzweiflung das Messer in die Brust. Ihre Abwehrbe- 167 wegung kommt zu spät. Die Klinge steckt in ihrem Herzen. Ich ziehe sie heraus und steche nochmals zu, nochmals und nochmals. Bis Mephista aufhört, sich zu wehren, bis sie aufhört zu röcheln, bis alles still ist und ich nur noch den Klang des Messers höre, wenn es sich seinen Weg in ihre Brust bahnt. Immer und immer wieder. Erst dann lasse ich von ihr ab. Ihre toten Augen starren in den klaren, kalten Sternenhimmel, doch ich sehe sie nicht lange an, sondern rolle mich von ihr herunter, torkle zu-


rück zu Emily und lasse mich neben ihr auf die Knie fallen. Hier weine ich mir die Seele aus dem Leib. »Emily«, flüstere ich verzweifelt. »Oh nein, Emily.« Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mit ihrem Mobiltelefon den Notruf wählen? Das hat keinen Sinn mehr. Mein Engel ist tot! Verzweifelt beuge ich mich über sie. Blut tropft auf ihr bildschönes Gesicht. Doch es ist nicht ihres, es ist meins! Es läuft aus meiner Nase und aus meinem Mund. Ich weiß nicht, was die Lady mir gegeben hat, aber ich fühle, dass es mich töten wird. Nicht irgendwann, nicht bald, sondern jetzt! In dem Moment, in dem diese Erkenntnis zur Ge- wissheit wird, werde ich vollkommen ruhig. Ich glaube, ich habe aufgehört, zu atmen. Ich glaube, ich habe nicht einmal mehr einen Herzschlag. Mein Körper wird schwe- rer und schwerer. Mit allerletzter Kraft streichle ich sanft über Emilys Kopf. Ich schließe ihre Augenlider. Alles ver- schwimmt. Ich fühle nichts mehr. Vor langer Zeit habe ich einmal gelesen, dass das Gehör eines Sterbenden noch aktiv ist, auch wenn die übrigen Sinne nichts mehr wahrnehmen. Ich weiß nicht, woher die 168 Klänge kommen, die ich in diesem Augenblick höre. Ich weiß nur, dass sie da sind: Anges purs, anges radieux, Portez mon âme au sein des cieux! Dieu juste, à toi je m’abandonne! Dieu bon! Je suis à toi, pardonne! Anges purs, anges radieux, Portez mon âme au sein des cieux! 169 Kapitel XVIII Der Messias



Sie haben einen beachtlichen Aufwand betrieben, um mich zu fi nden. Am Ende hatten sie Erfolg. Allerdings auch nur deshalb, weil ich aufh örte, mich zu verstecken. Ich ließ mich von Jordan nach London fahren, setzte mich in einen Park und wartete einfach ab, bis sie mich holten. Die Lady war tot. Ich wusste es schon, bevor es irgendwo niedergeschrieben wurde, denn ich habe es gespürt. Am nächsten Tag brachte Jordan mir die Bestätigung. Es stand ganz groß in der Zeitung: Eine geheimnisvolle Lady, die später als Mephista Dowland-Hale identifi ziert werden sollte, eine junge Polizistin und eine Drogenprostituierte, allesamt tot auf dem Dach eines alten Parkhauses. Es war grauenhaft für mich. Denn ich habe auf einen Schlag zwei der wichtigsten Menschen verloren: Meine Schwes- ter Emily, die ich kaum richtig kennenlernen durft e, und meine Herrin, die mich noch immer in ihrem Bann hielt. Und doch war es die Darstellung von Florence Cunning- ham in den Medien, die mich am meisten traf. Sie war in diesem Spiel zwischen Himmel und Hölle nicht vorgesehen gewesen und die Nachwelt wird sich an sie bloß als eine 171 171 mordende Drogensüchtige erinnern. Dabei war sie doch so viel mehr als das. Sie war es wahrscheinlich, die Me- phista getötet und die Menschheit so vom Joch des Bösen befreit hat. Und genau darum habe ich mich entschieden, der Polizei meinen Teil zu erzählen, anstatt mich weiter zu verstecken. Jordan hadert mit Mephistas Tod. Auch wenn sie ihm



seine Kindheit zur Hölle gemacht hat, und sie sich als Er- wachsene nie gesehen haben, war die Lady doch seine ver- lorene Schwester gewesen. Wer sie wirklich war und von wem sie beide abstammten, weiß er bis heute nicht. Nur ich könnte ihm das verraten. Ich mag es nicht, Geheimnisse zu haben, aber dieses werde ich gewiss niemandem offen- baren. Weder Jordan noch der Polizei. Letztere ist ohne- hin schon beschäftigt genug. Dass Emily meine Schwester war, haben sie mir triumphal mitgeteilt. Ich habe Detective Chief Inspector Charleen Taylor danach nur mitleidig an- geschaut und zu ihr gesagt: »Sie hätten mich auch ganz einfach danach fragen können, dann hätten sie sich einigen Aufwand gespart.« Sie war daraufhin tatsächlich ein klei- nes bisschen beleidigt. Ich habe mich natürlich entschuldigt und sie danach um einen Gefallen gebeten, denn ich glaube, sie mag mich irgendwie. Jedenfalls kehrt Taylor in diesem Moment zu- rück, legt mir Handschellen an und führt mich aus meiner Zelle. Wir gehen einen langen Flur entlang, durch mehrere Gittertüren, die jeweils einzeln geöffnet werden, betreten einen Aufzug und steigen im Eingangsbereich aus. Taylor führt mich, begleitet von zwei Polizeibeamten, zu einem Streifenwagen, mit welchem wir zur Rechtsmedizin fahren. Im rechtsmedizinischen Institut fahren wir mit dem 172 Fahrstuhl in den Untergrund. Ein eigenwilliger Geruch empfängt uns beim Aussteigen. Er macht Taylor erstaunli- cherweise mehr zu schaffen als mir, aber sie lässt sich nichts anmerken. Ein Mitarbeiter der Rechtsmedizin führt uns in den Untersuchungsraum, wo drei zugedeckte Leichen auf Untersuchungstischen liegen.


Wir treten neben den mitt- leren Tisch und der Gerichtsmediziner sieht Taylor fragend an, die mit einem kurzen Nicken ihr Einverständnis gibt. Ich breche auf der Stelle in Tränen aus, als ich Emilys Leiche sehe. Ihr hübsches Gesicht ist bleich und eine lange, hässliche Wunde läuft um ihren zarten, schlanken Hals. Dass sie mit einigen groben Stichen notdürftig genäht wurde, macht den Anblick auch nicht erträglicher. Ich gehe vor dem Untersuchungstisch auf die Knie, lege meine gefesselten Hände auf die Tischkante, stütze meine Stirn darauf ab und heule mir die Seele aus dem Leib. Charleen Taylor, die im ersten Augenblick noch vor- geschnellt war, um mich davon abzuhalten, den Tisch zu berühren, hält einen Augenblick inne und legt mir dann tatsächlich tröstend die Hand auf die Schulter. Sie lässt mir die Zeit, die ich brauche, um mich von Emily zu ver- abschieden. Ich habe das Gefühl, sie tut gerade dasselbe. Schließlich erhebe ich mich und trete einen Schritt von der Leiche meiner Schwester zurück. Dabei stoße ich leicht an den Tisch hinter mir und drehe mich um. Ich sehe den Na- men auf der Akte, die am Kopfende liegt: Florence Eileen Cunningham. Ich blicke Taylor fragend an. Sie zögert, gibt dem Rechts- mediziner aber letztlich doch das Einverständnis, das La- ken zurückzuschlagen. Ich sehe Florences Leiche lange an. Im Gegensatz zu 173 Emily wirkt sie unversehrt, bis auf die Narbe in ihrem Ge- sicht. Aber die hatte sie ja vorher schon. Sie macht auf mich


den Eindruck, als wäre sie auf eine seltsame Weise mit sich im Reinen. Taylor wird ungeduldig, als ich unvermittelt aufschaue und sie frage: »Woran ist sie gestorben?« Da sprudelt es förmlich aus ihr heraus: »Es grenzt schon beinahe an ein Wunder, dass sie mit dem, was sie intus hatte, noch in der Lage war, aufzustehen und …« Taylor bricht mitten im Satz ab. Es ist offensichtlich, wie sehr sie das Ganze mitnimmt. Florence und Emily waren ihr beide sehr ans Herz gewachsen. Trotzdem darf sie natürlich nicht über die laufende Ermittlung sprechen, aber ich habe die Bestätigung für meine Vermutung: Florence Cunningham ist für den Tod der Lady verantwortlich. Ich trete näher an den toten Körper der jungen Polizistin heran. Florence tut mir leid und ich fühle mich dafür verantwortlich, was ihr widerfahren ist. Hätte sie mir damals nicht zur Flucht ver- holfen, hätte ihr Leben nicht diese unheilvolle Wendung genommen. Vielleicht wäre sie dann allerdings auch nicht zur Stelle gewesen, um zu vollenden, was weder Emily noch ich zu vollenden in der Lage gewesen waren. Ich fühle, wie mir wieder eine Träne über die Wange rinnt und drehe mich um. Nach einem letzten Blick auf meine Schwester senke ich meinen Blick, wende mich Inspector Taylor zu und lasse mich von ihr zurück in meine Zelle bringen. Die dritte Leiche im Raum lasse ich mir nicht mehr zeigen. Ich weiß nicht, was der Anblick der Lady mit mir machen würde.


Ich weiß nicht, wie viel Macht sie auch im Tod noch über mich hat. Ich will es lieber gar nicht wissen. 174 Inspector Taylor und ich sprechen kein Wort. Jede von uns hängt wohl ihren schwermütigen Gedanken nach. Nachdem sie mich zurück in meine Zelle gebracht, sich zum Gehen gewandt und der Wache das Zeichen gegeben hat, mich einzuschließen, spreche ich sie nochmals an. »In- spector?« »Ja?«, erwidert sie überrascht. »Hätte ich jemals die Wahl gehabt, etwas anders zu ma- chen, ich hätte es getan. Das müssen sie mir glauben.« »Man hat immer eine Wahl, Miss Michaelis«, erwidert Taylor kühl. »Es stellt sich bloß die Frage, ob man bereit ist, mit den Konsequenzen zu leben.« Ich nicke traurig. Hoffentlich wird sie mich verstehen, wenn sie irgendwann meine ganze Geschichte kennt. Natürlich weiß ich, dass mir aufgrund der vielen Morde, die ich begangen und inzwischen freimütig zugegeben habe, lebenslange Haft droht, und so werde ich mein Kind in Gefangenschaft zur Welt bringen müssen. Aber ich werde es in Sicherheit zur Welt bringen. Das ist das Einzige, das zählt. So waren all die Tode nicht umsonst. Mit dieser Gewissheit lege ich mich hin und warte auf die Nacht. Ich staune, als ich ungefähr zwei Wochen später eines Morgens aus meiner Zelle geholt werde. »Jemand hat ihre Kaution bezahlt, Miss Michaelis.« Als wir den Eingangsbe- reich betreten, bleibe ich wie vom Donner gerührt stehen. Whitney steht an einer Art Schalter und überreicht dem Beamten gerade ein Schreiben.

Ich frage mich, ob ich wegrennen soll. Was hat Whitney mit mir vor? Auf wessen Seite steht sie? Unsere Haushälterin dreht sich zu mir um und streckt 175 auf mütterliche Weise die Hand nach mir aus. Ich greife nach ihr wie ein kleines Kind. »Lass uns gehen, Azraelle.« Whitneys Gesichtsausdruck, der über all die vergangenen Jahre immer unergründlich und unnahbar gewesen war, ist auf einmal freundlich und liebevoll. Ohne zu zögern, lasse ich mich aus dem Gefäng- nis hinaus auf einen etwa zehn Gehminuten entfernten Parkplatz führen. Dort bringt Whitney mich zu Mephistas Jaguar. Ich schrecke zurück, als ich den eleganten grünen Wagen sehe. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben, mein Kind. Sie kehrt nicht wieder. Es ist jemand anderes, der im Auto auf dich wartet.« Vorsichtig trete ich näher. Jordan Hale! Ich will die Tür aufreißen und einsteigen, doch Whitney hält mich zurück. »Einen Moment noch, Azraelle!« Ich zucke zusammen, aber Whitney umarmt mich bloß vorsichtig. »Ich weiß nicht, ob und wann wir uns wieder- sehen werden, meine Kleine, und wir haben nicht viel Zeit. Darum, bevor ich dir Lebewohl sage, sollst du zwei Dinge wissen. Erstens tut es mir leid, was du all die Jahre erdulden musstest. Ich hätte dir dein Los gerne erspart. Aber leider musste ich mich damit begnügen, dir im Hintergrund zu helfen. Sonst wäre ich aufgeflogen und hätte das Verspre- chen, das ich deinen Eltern gegeben habe, womöglich nicht halten können.« »Du hast meine Eltern gekannt?«, frage ich erstaunt. »Ja, Azraelle.

Dein Vater war mein Bruder. Ihm und dei- ner Mutter habe ich geschworen, dich zu beschützen und dir bei deiner Aufgabe zu helfen. Und darum sollst du als Zweites auch wissen, dass ich dich immer geliebt habe wie 176 meine eigene Tochter. So, nun steig aber ein, mein Engel, und dann macht, dass ihr wegkommt!« Whitney stellt sich auf die Zehenspitzen, küsst mich auf die Wange, dreht sich um und geht. Ich glaube, sie eine Träne aus dem Augen- winkel wischen zu sehen. Hinter mir öffnet sich die Beifahrertür von Mephistas Jaguar. »Rasch, Azraelle!«, zischt Jordan mir zu. Ich wende mich von Whitney ab und steige ein. Jordan wirkt nervös. Er gibt mir einen flüchtigen Kuss, startet den Motor und fährt los. Erst jetzt werfe ich einen Blick nach hinten und erkenne, weshalb mir der Wagen so vollgestopft vorgekommen war. Jordan hat mein Cello auf den Rücksitz gepackt. Neben dem Cello liegt meine Spieluhr. Es sieht also nicht danach aus, als würden wir nach Saint George Manor zurückkehren. »Wohin fahren wir, Jordan?« »Nach Hause, Azraelle.« Jordan sieht mich an und strei- chelt sanft über meine Wange. Er versucht, ruhig zu wirken, trommelt aber während der Fahrt immer wieder nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. Ich blicke ihn fragend an. Wo ist mein Zuhause? Wo ist unser Zuhause? »Wir fahren nach Cornwall.« Sobald wir die Autobahn erreicht und uns in den Ver- kehr eingefädelt haben, entspannt Jordan sich und beginnt, zu erzählen. »Saint George Manor gehört nach Mephistas

Tod mir, und auch ihr gesamtes Vermögen. Mit ihrem Geld habe ich deine Kaution bezahlt und das Ferienhaus deiner Eltern gekauft. Weil du als Mordverdächtige nicht darüber verfügen kannst, verwaltete es der britische Staat und der war offenbar ganz froh, dass ich mich darum kümmern will.« »Dann … sind wir jetzt zusammen, Jordan?«
