Der letzte Dezember

Der letzte Dezember
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Nord Ascher
Hinter ihr leuchtet der Schnee im Mondschein.

„Guten Abend, die Herren.“, Sie schließt die Tür und schüttelt ihre großen Flügel; Flocken wehen durch den Raum. „Christkind, mach’ nicht so’n Wind“, ruft ein wohlgenährter Herr im roten Mantel.

Ein schlanker Mann steht auf, nimmt einen Barhocker und erweitert die Dreierrunde.

Das Christkind schaut ihn an. „Ohne Bart gefällst du mir noch viel besser.“ Der Krampus lächelt.

„Bis zum Herbst trag’ ich Hegel, dann muss es wieder Marx sein.“ „Lass mich ein Foto machen“, Das Christkind greift zum Handy und macht ein Bild. „Weihnachtsmann, Nikolaus rutscht mal näher zusammen, ich mache von uns vieren auch noch ein Selfie.“ Dann setzt es sich, der Krampus schenkt ihm einen Becher Glühwein ein und nimmt auf dem Hocker neben ihm Platz. Der Weihnachtsmann brummelt: „Du hast wieder in meinem Gebiet gewildert.“ „Hat Luther nicht geschrieben, du seiest unsichtbar und brächtest die Geschenke heimlich?“ ergänzt der Nikolaus, während er suchend durch ein altes Buch blättert. Das Christkind lacht glockenhell.

„Ich hatte ein Gespräch mit Chat GPT.“ „Mit wem?“ Der Nikolaus hat tiefe Falten auf der Stirn; der Weihnachtsmann schaut fragend das Christkind an.

„Ach, einfach einem anderen, hilfreichen Geist.“ „Und was sagt der PieTie?“ „Ich solle sichtbar fraulicher auftreten und mir einen Sponsor suchen, so wie ihr mit Coca-Cola.“ „Das ist kein Sponsor, das ist nur Zufall.“ „Wer’s glaubt.“ Sie sitzt kerzengerade; legt den rechten Flügel sanft auf des Krampus’ Rücken.

„Ich bin jetzt jedenfalls Influencerin mit mehr als 100 Millionen Followerinnen.“ „Ist das wie bei Jesus und seinen Jüngern?“ fragt der Weihnachtsmann. „Und hast du auch schon einen Werbepartner?“, will der Nikolaus wissen. „Klar, und Wunder erwartet keiner, es reicht, wenn ich Bergwasser trinke und Bioobst esse.“ „Und die Weihnachtsgeschenke?“ „Ist doch verständlich, dass sich die Menschen lieber von einer attraktiven Frau als von einem alten, grauhaarigen Mann beschenken lassen wollen“, wendet sich Krampus an den Weihnachtsmann, „du hast den Job doch nur, weil dein Zwillingsbruder diesen Coke-Deal eingefädelt hat.“ Der Weihnachtsmann schüttelt den Kopf und blickt abwesend auf den flaschenförmigen Sekundenzeiger seiner rot weißen Uhr.

Nikolaus steht auf, wird laut: „Das Schenken war seit über tausend Jahren Tradition in unserer Familie, bis vor 500 Jahren dieses angeblich nicht wahrnehmbare Christkind auftauchte.“, er zeigt auf Krampus, „du warst dabei.“ Der Krampus erhebt sich ebenfalls.

„Es geht dir gar nicht ums Schenken - du willst immer abrechnen mit den Kleinen. Warst du artig, brav, gehorsam? Das passte schon vor einem halben Jahrtausend nicht mehr in die Zeit. Dein rigider Universalismus verliert seitdem Jahrzehnt um Jahrzehnt an Boden.

Und trotzdem notierst du weiter akribisch die Kindertaten in deinem goldenen Buch.“ Der Nikoluas, leiser, eindringlicher: „Und du, geniesst du es nicht heimlich, die Angst zu sehen, das Flehen in den kleinen Gesichtern, das Zittern und die Tränen? Und - hat sie dir nicht erst vor ein paar Tagen Handschellen geschenkt?“ Sein Blick ist jetzt aufs Christkind gerichtet.

„Du schenkst doch jedem genau, was er benötigt, oder?“ Lächelnd steht die Frau auf, reckt sich, dehnt die beeindruckenden Flügel und hebt die Glühweintasse an, „Prost Jungs, aufs Neue Jahr.“ Sie wendet sich dem Krampus zu: „Komm, wir verschwinden.“ An der Tür dreht sich das Christkind noch kurz um, „Bis Anfang Dezember dann, ihr zwei Hübschen.“

Die Tür der Hütte öffnet sich schwungvoll. Im Türrahmen steht eine junge Frau mit schulterlangem, goldblondem Haar.
